„Frieden kann nur ohne Putin gelingen“: Russische Journalistin lebt nach Protest-Aktion im Exil

Im russischen TV protestierte Marina Owsjannikowa gegen den Ukraine-Krieg. Dann tauchte sie unter. Das macht die Journalistin heute.
Paris/Köln – Wenige Sekunden reichten aus, um das Leben von Marina Owsjannikowa für immer zu verändern. Kurz nach Ausbruch des russischen Invasionskrieges in der Ukraine protestierte die russische Journalistin mit einem „No War“-Schild live im russischen Staatsfernsehsender Erster Kanal. Ein Screenshot ging um die Welt. Es folgten Festnahme, Strafverfahren, Hausarrest, elektronische Fußfessel und die Flucht nach Europa mit ihrer Tochter. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ unterstützte sie dabei – und hilft ihr bis heute, sich im französischen Exil zurechtzufinden. Vor wenigen Tagen erschien ihr Buch „Zwischen Gut und Böse: Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte“ (Langenmüller), vor wenigen Tagen war sie zu Gast bei „Markus Lanz“.
Die Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA sprach mit Marina Owsjannikowa über ihren mutigen Protest, die Arbeit in einem Propagandaapparat und die düstere Zukunft Russlands.

Russlands Krieg gegen die Ukraine: Journalistin Marina Owsjannikowa protestiert live im Staatsfernsehen
Frau Owsjannikowa, Sie waren monatelang untergetaucht, jetzt treten Sie wieder an die Öffentlichkeit. Wie geht es Ihnen heute?
Ich fühle mich momentan sicher und bin Frankreich sehr dankbar dafür, dass sie mich und mein Kind gerettet haben. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ ist eine große Unterstützung für mich. Ein Alltag hat sich jedoch noch nicht eingestellt, ich träume davon und hoffe, dass es bald so weit sein könnte.
Sie leben heute im Exil, haben viel aufs Spiel gesetzt. Warum?
Ich musste es einfach tun. Nach so vielen Jahren als Journalistin für das Staatsfernsehen war ich müde von der russischen Propaganda. 20 Jahre lang hat Wladimir Putin uns und unser Land zerstört und alle unabhängigen Medien zerschlagen. Ich hatte das Gefühl, dass es kein Entkommen gibt. Durch den Krieg wurde mir jedoch klar, dass es für mich unmöglich ist, weiter zu schweigen. Mein Vater ist Ukrainer, ich wurde dort geboren. Hinzu kommt, dass ich in meiner Kindheit den Tschetschenien-Krieg erleben musste, diese Erfahrungen haben mich sehr geprägt.
Wie haben sich die ersten Tage des Krieges für Sie angefühlt?
Am ersten Tag des Krieges wollte ich kündigen und mit Plakaten öffentlich demonstrieren. Aber es war klar, dass das keinen Sinn macht, denn Proteste wurden und werden brutal niedergeschlagen. Außerdem hat mein Sohn mich davon abgehalten, er hatte Angst um mich. In den Tagen danach stand ich unter Schock, ich konnte nicht schlafen und essen. Auf Facebook habe ich mich offen gegen den Ukraine-Krieg positioniert – was ich tatsächlich vorhatte, habe ich jedoch niemanden verraten.
Was ist direkt nach Ihrem Auftritt im Fernsehen passiert?
Ich war einen Tag, 24 Stunden, ohne Anwalt inhaftiert. Meine Verwandten wussten nicht, wo ich mich befinde.
Putin und zombifizierte Russen: Kriegsgegnerin Owsjannikowa gibt Einblicke in Propaganda
Sie sprechen in Ihrem Buch „Zwischen Gut und Böse“ von „zombifizierten Russen“. Was meinen Sie damit?
Die Russen leben in einer parallelen Realität. Alle Medien stehen unter Kontrolle von Putin und der Regierung. Sie denken, dass sie in einer friedlichen und guten Welt leben und dass um sie herum nur Feinde sind, die Russland bedrohen.
Sie waren jahrelang Teil der russischen Propaganda. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Ihnen das bewusst war. Wie erträgt man das?
Ich habe in einer Abteilung für internationale Politik gearbeitet und war dort vor allem im Hintergrund tätig. Ich kam zur Arbeit, habe meine Aufgaben erledigt und bin dann nach Feierabend zurück in meine eigene Welt. Man muss verstehen, dass sehr viele Journalisten im staatlichen Fernsehen wissen, dass die Propaganda nicht stimmt. Nur ein geringer Anteil ist völlig von Putins Regime überzeugt. In meinem Buch beschreibe ich, wie diese Menschen morgens Petitionen unterschreiben, für Alexej Nawalny und gegen das Regime, und am Abend propagandistische Nachrichten verbreiten.
Wie bringt man das zusammen?
Sie haben Angst, dass sie sonst keine andere Arbeit mehr finden und ihre Familien vor dem Nichts stehen. Noch letztes Jahr wurde der Lohn der russischen Propagandisten, also jenen Journalisten, die die Propaganda des Kreml verbreiten, erhöht. So will das Regime die Menschen durch einen finanziellen Anreiz motivieren. Jetzt herrscht Krieg, und die Journalisten fürchten, dass sie, sollten sie jetzt kündigen, keine andere Arbeit finden. Also schweigen sie.
Sie wurden kurz nach Ihrem Protest als Heldin gefeiert, später schlug Ihnen von russischer und ukrainischer Seite Hass entgegen. Ihr Sohn, der noch immer in Russland lebt, distanzierte sich. Sie haben einen hohen Preis gezahlt.
In Russland wurde ich als Verräterin beschimpft, die Ukraine wiederum warf mir vor, dass ich so lange Teil des Propagandaapparats war. So viel Hass habe ich noch nie erlebt. In allen Netzwerken gab es Drohungen gegen mich. (ihre Stimme wird brüchig, man merkt, dass ihr das Sprechen über das Thema schwerfällt) Das Schlimmste war, dass mein eigener Mann versucht hat, mir meine Kinder wegzunehmen. (Sie steht auf und verschwindet aus dem Bild. Eine Mitarbeiterin von „Reporter ohne Grenzen“ sagt, dass wir eine Pause machen. Nach einigen Minuten geht das Interview weiter)
Ukraine-Krieg: „Russland ähnelt heute wieder der Zeit unter Josef Stalin“
Könnte sich das Volk eines Tages aus ihrem zombifizierten Zustand befreien?
Die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung nimmt immer mehr zu. Aber es ist den Menschen nicht möglich, auf die Straßen zu gehen und offen zu demonstrieren. Russland ist ein Polizeistaat. Es ist daher schwierig, Unzufriedenheit offen äußern zu können, ohne Gefahr zu laufen, inhaftiert zu werden. Es gab zwar viele, die versucht haben, zu demonstrieren. Aber sie wurden festgenommen und bestraft. Russland ähnelt heute wieder der Zeit unter Josef Stalin.
Was für eine Zukunft sehen Sie für Russland und die Ukraine?
Die Ukraine hat eine gute Zukunft, sie wird den Krieg gewinnen und bekommt Unterstützung. Europa wird sie beim Wiederaufbau unterstützen, wenn dieser ganze Alptraum vorbei ist. Die russische Zukunft wiederum ist schrecklich. Das Land ähnelt momentan Deutschland im Nationalsozialismus, als der Krieg noch nicht verloren war, aber die Niederlage bereits absehbar. Ich hoffe, dass es Russland gelingen wird, nach Kriegsende den Weg zu gehen, den Deutschland gegangen ist: Reparationen zahlen, seine Schuld akzeptieren – und dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.
Ist das nur ohne Wladimir Putin möglich?
Ja, Frieden kann nur ohne Putin gelingen. Für eine Demokratie ist der Weg nur offen, wenn Putins Regime beendet und zerstört wird.
Sie sind Journalistin. Wenn Sie sich die europäische Berichterstattung über Russland anschauen, haben Sie das Gefühl, dass bestimmte Aspekte zu kurz kommen?
Was mir auffällt, ist, dass sich die Journalisten, die es geschafft haben, Russland zu verlassen, zwischen zwei Fronten befinden. Auf der einen Seite werden sie von russischer Seite kritisiert und unter Druck gesetzt, auf der anderen Seite wird ihnen von europäischer Seite vorgeworfen, die Propaganda unterstützt zu haben. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Menschen Unterstützung brauchen, um die Wahrheit zu verbreiten. Alle, die jetzt Russland verlassen, haben ein gemeinsames Ziel: Putin bekämpfen.
(Übersetzung: Nataliia Sherstneva)