Nach dem schweren Erdbeben: Darum kommt Hilfe in Syrien nur schleppend an

Das verheerende Erdbeben in Nordsyrien trifft Menschen, die durch den Krieg bereits alles verloren hatten. Aber zu helfen, ist in Syrien gar nicht so einfach. Das Land ist in viele Lager gespalten.
Köln/Damaskus – In Momenten wie diesen vermögen allein Bilder die brutale Realität wiederzugeben. Wie die Aufnahme eines von Staub bedeckten Neugeborenen im Nordwestens Syriens, das als einzige Überlebende ihrer Familie ins Leben starten muss. Mutter, Vater, drei Schwestern, Bruder und Tante – alle tot. Immer höher steigt die Zahl der Todesopfer in Syrien. Diesmal nicht wegen Kriegshandlungen, sondern aufgrund eines verheerenden Erdbebens. Es trifft Menschen, die seit 2011 unter der Brutalität des Syrien-Krieges leiden, es trifft ein Land, das bereits am Boden liegt.
Währenddessen kommen internationalen Hilfen nur schleppend an. Zwar vermeldete die syrische Staatsagentur Sana, dass Hilfsgüter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Iran und dem Oman in Damaskus eintrafen. Diese werden jedoch mutmaßlich nur den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten helfen. Zum Großteil besteht aber der besonders betroffene Nordwesten aus Rebellenhochburgen und der autonomen kurdischen Administration Rojava. Staatliche Hilfen sind dort kaum erwartbar. Im Syrien-Krieg ist jede Unterstützung politisch.
Hinzu kommt: In der Provinz Idlib etwa, wo Millionen Binnengeflüchtete aus ganz Syrien Zuflucht fanden, war die medizinische und zivile Infrastruktur schon vor dem Erdbeben durch die Regierungsarmeen größtenteils zerstört worden. Und in den kurdischen Gebieten um Tal Rifaat durch Luftangriffe der Türkei. Kurzum: Die Welt ist Zeuge einer humanitären Katastrophe in Syrien. Erneut. Aber sie blickt immerhin nach langer Zeit aufmerksam in das vom Bürgerkrieg zerstörte Land.
Erdbeben-Katastrophe: Hilferuf aus Nordostsyrien – „Es fehlt an allem“
In der Türkei laufen die internationalen Hilfen hingegen auf Hochtouren. Es gibt mehrere Gründe, vor allem politischer und logistischer Natur, warum das in Syrien nicht so ist. In den von Damaskus kontrollierten Gegenden scheint eine Zusammenarbeit unausweichlich. Das bringt den Westen in eine Bredouille, niemand möchte mit dem Regime kooperieren. In den autonomen Gebieten wiederum organisiert sich die gesamte internationale Hilfe über einen einzigen, durch eine UN-Resolution garantierten Grenzübergang. Die kommt jedoch kaum durch. Erst am Donnerstag (09.02.2023), drei Tage nach dem Erdbeben, gelang es den ersten UN-Hilfskonvois, in syrisches Rebellengebiet vorzudringen. Und kurdische Stellungen wurden von der türkischen Armee offenbar weiter beschossen.
So sagt Kamal Sido, Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker, der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA: „Betroffene vor Ort berichten uns, dass islamistische Söldner im Auftrag der Türkei Hilfsgüter beschlagnahmen und gezielt von kurdischen Siedlungen fernhalten“, so Sido. Nahezu alle Grenzübergänge nach Nordsyrien seien unter der Kontrolle der Türkei. Hilfsgüter für die kurdische Bevölkerung würden kaum oder gar nicht durchgelassen. „Das Erdbeben hält die Türkei nicht davon ab, kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien zu bombardieren. Am Dienstag griff Ankara etwa das vom Beben betroffene Umland von Tal Rifaat an“, berichtet Sido weiter. Eine unabhängige Überprüfung der Berichte aus dem Krisengebiet ist aktuell so gut wie unmöglich.
Auch Khaled Davrisch, Vertreter der Selbstverwaltung in Nordostsyrien in Deutschland, schildert unserer Redaktion dramatische Umstände: „Die Lage in Nordostsyrien ist schlimm. Es fehlt an allem. Es fehlt an Unterkünften, Lebensmitteln und Medikamenten. Wir haben bislang keine Hilfe aus dem Ausland erhalten, weder von der Bundesregierung noch der Europäischen Union. Alle internationale Hilfen wurden bislang nur der Türkei gewährt. Hilfe darf nicht politisiert werden und sollte unbürokratisch und schnell bei den Menschen ankommen“, so Davrisch.
Erdbeben in Syrien: Annalena Baerbock und Agnieszka Brugger fordern humanitäre Korridore
Wie das Auswärtige Amt mitteile, wurden 25 Millionen Euro zusätzlich für Syrien bereitgestellt. Man arbeite daran, dass die Hilfe jetzt bei den Menschen ankomme und unterstütze Hilfsorganisationen vor Ort mit zusätzlichen finanziellen Mitteln. Angesichts der Notlage forderte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auch, humanitäre Korridore zwischen Syrien und der Türkei einzurichten. Dem schließt sich Agnieszka Brugger, Vize-Vorsitzende der Grünen im Bundestag, im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA an. „Die Menschen in der Region haben in jeder Hinsicht furchtbares Grauen erlebt – und jetzt dieses geradezu apokalyptische Ereignis. Sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung haben angekündigt, den Menschen helfen zu wollen. Dazu bedarf es zunächst einer Sache: der Öffnung der Zugänge nach Syrien“, so die Grünen-Politikerin.
Konkrete Forderungen stellt auch Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut, Vize-Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. „Die Bundesregierung muss jetzt gegenüber den Regierungen in Ankara und im Irak ihren Einfluss geltend machen, damit die Grenzübergänge nach Rojava für die Katastrophenhilfe geöffnet werden“, so die Linke. Auch sie verurteilt die mutmaßliche Bombardierung der vom Erdbeben betroffenen Gebiete in Nordsyrien seitens der Türkei. „Während sie selbst um internationale Hilfe gebeten hat, beschießt die Türkei die Katastrophengebiete jenseits der Grenze. Das ist ein unglaublicher Vorgang“, sagt Akbulut.
Erdbeben: Kommt erneut Bewegung in den Syrien-Konflikt?
Jedoch gehört – trotz der aktuellen Aufmerksamkeit – zur Wahrheit, dass sich die internationale Gemeinschaft bis zu der jüngsten Erdbeben-Katastrophe wenig für Syrien interessiert hatte. „Die Welt hat uns in den letzten Jahren im Stich gelassen. Die Verantwortlichen tun nichts, damit die Menschen in Sicherheit leben können, hier im letzten Restgebiet des Landes, wo sie nicht vom Regime verfolgt werden“, sagte ein Sprecher der syrischen Weißhelme aktuell dem Spiegel. Syrien sei allein mit der Katastrophe.
Angesichts der Naturkatastrophe versprechen jedoch zahlreiche Staaten, Hilfen auf den Weg zu bringen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass erneut Bewegung in die Lösung des Syrien-Konflikts kommt? Grünen-Politikerin Agnieszka Brugger reagiert zurückhaltend. „Wir erleben immer wieder, dass Gewaltakteure das Leid vor Ort zum Teil ihrer Kriegsstrategie machen und die Hilfsbedürftigkeit der Menschen ausnutzen, um ihre Macht weiter zu stabilisieren“, warnt sie. Im schlimmsten Fall könnte das Assad-Regime von dem Erdbeben also noch profitieren. Daher fordert Brugger: „Diese Menschen brauchen unsere Aufmerksamkeit und den Willen, neue Wege zu suchen, um zumindest das Leid zu lindern. Deshalb dürfen diese Kriege nicht aus dem Blick der internationalen Gemeinschaft gelangen.“ Das Bild des aus Trümmern geborgenen Neugeborenen, die einzige Überlebende ihrer Familie, dürfte zumindest im Gedächtnis bleiben. Vorerst.