Heftige Proteste gegen Entmachtung von Richtern: Stirbt die Demokratie in Israel?

Die rechts-religiöse Regierung in Israel will das Justizsystem umbauen – und die Gewaltenteilung faktisch aufheben. Liberale Israelis sind in Panik. Und dazu haben sie allen Grund, sagt ein Experte.
Berlin – Sie kamen in Massen. Mit Bussen und mit der Bahn. Aus Tel Aviv, Haifa und aus den entlegeneren Landesteilen. Rund 100.000 Menschen haben sich vor der Knesset, dem israelischen Parlament, in Jerusalem versammelt. Sie pfiffen, buhten, schwenkten Fahnen. Eine solche Demonstration wie zu Beginn der Woche hat Israel lange nicht erlebt.
Die Zivilgesellschaft hat ein Zeichen gesetzt. Und sie ist in Sorge. In Sorge um das, was Israel in einer politisch instabilen Region auszeichnet: seine Verfasstheit als demokratischer Rechtsstaat. Doch dieses Bild ist dabei, Risse zu bekommen. Denn: Die rechts-religiöse Regierung von Benjamin Netanjahu plant den Umbau der Justiz. Die Regierung nennt es Reform. Kritiker sehen darin die Abkehr von der liberalen Demokratie. Sofern das Gesetz in Kraft tritt, würde es den Einfluss des Obersten Gerichts stark beschneiden. Das Parlament könnte Gerichtsurteile per Mehrheitsbeschluss widerrufen. Und: Es wäre die Regierung allein, die in Zukunft über die Berufung von Richtern entscheidet.
Die Gewaltenteilung? Sie wäre 75 Jahre nach Gründung des Staates Israel faktisch aufgehoben.
Israel-Experte: „Die Lage ist angespannt“
Auch Daniel Mahla ist besorgt. Der Wissenschaftler aus Deutschland ist Historiker und lehrt an der Universität von Haifa. „Die Lage ist angespannt“, sagt der Israel-Kenner im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. Die Gesellschaft sei stark polarisiert. Und das Land drifte politisch nach rechts. Von der „rechtesten Regierung, die Israel jemals hatte“, spricht Mahla am Telefon. Bürgerrechte blieben in dieser Gemengelage auf der Strecke.
Fast schon bezeichnend für die verworrene Situation in Israel: Es waren nicht die extremistischen Teile der Koalition, die die Justizreform vorangetrieben haben. Es war Netanjahus eigene Partei, die rechts-konservative Likud. Was sie antreibt? Der Ministerpräsident, der selbst wegen Korruptionsdelikten angeklagt ist, könnte ein Interesse daran haben, die Justiz zu schwächen. Doch es gibt noch eine andere Erzählung: „Die politische Rechte sieht im Obersten Gericht eine tendenziell liberale Instanz“, sagt Historiker Mahla. Das zeige sich – vermeintlich – bei Urteilen zur Besetzung des Westjordanlands. Salopp gesagt: Die Richter zeigen zu viel Appeasement gegenüber den Palästinensern.
Wie die Türkei und Ungarn: Israel könnte eine illiberale Demokratie werden
Mit der Realität habe das zwar nicht viel gemein, sagt Mahla. Aber das Narrativ verfange. „Und die Regierung argumentiert, dass das Land durch die Reform demokratischer wird“, sagt der Kenner der jüdischen Kultur. All das erinnert an das Vorgehen in der Türkei und Ungarn, zwei Länder, die sich ebenfalls als Demokratie bezeichnen. Und in denen die Regierung Staat und Gesellschaft umbaut. Angeblich, um die Demokratie zu stärken. Tatsächlich aber leiden Rechtsstaatlichkeit, Wissenschafts- und Pressefreiheit.
Ist Israel ebenfalls auf dem Weg, eine illiberale Demokratie zu werden? „Ich sehe die Gefahr auf jeden Fall“, sagt Nahost-Experte Mahla. Da geht es ihm wie vielen Israelis, die seit Wochen auf die Straße gehen. In Haifa warnte eine 85-jährige Holocaust-Überlebende am Rande einer Demonstration vor dem „Versuch, Israel von einer Demokratie in eine Diktatur zu verwandeln“. Die Gesellschaft ist in Aufruhr. Fast schon flehentlich wandte sich Staatspräsident Isaac Herzog am Sonntagabend im TV an die Nation. Das Land stehe „am Rand eines verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruchs“, sagte Herzog. Der Präsident mahnte Regierung und Opposition an, doch einen Kompromiss zu finden.
Umstrittene Justizreform: Warum liberale Israelis jetzt auf den Kapitalismus hoffen
Aber seine Worte verhallten. Am Montag billigte der Justizausschuss der Knesset einen Teil der umstrittenen Reform. Damit das Gesetz komplett in Kraft tritt, sind noch drei weitere Lesungen im Parlament notwendig. Die Uhr tickt also. Doch es gibt etwas, das liberalen Israelis Hoffnung macht: der Kapitalismus.
Israel ist ein Hightech- und Start-up-Standort, die Wirtschaft international vernetzt. Das Land gilt weltweit als einer der wichtigsten Player für digitale Innovationen. „Solche Unternehmen brauchen Rechtssicherheit und ein liberales Umfeld“, sagt Israel-Experte Daniel Mahla. Die Likud-Partei des Ministerpräsidenten rühme sich für zwei Dinge: die innere Sicherheit und ihre erfolgreiche Wirtschaftspolitik.
Was im Umkehrschluss bedeutet: Ohne die Unternehmen geht in Israel nichts. Wenn es schon dem Staatspräsidenten und den Demonstranten nicht gelang, Benjamin Netanjahu und sein Kabinett zu beeindrucken: Vielleicht schaffen es ja die Gründer und Konzernlenker.