Botschafts-Warnung durchgesickert: Hat Merkels Regierung versagt? CDU-Mann räumt „großen Fehler“ ein

Auf den letzten Drücker will die Bundesregierung in Afghanistan reagieren – trotz vieler Warnungen. Die Kritik ist überwältigend. Sogar ein CDU-Mann räumt „Fehler“ ein.
- Die Taliban stehen in Kabul - die Lage in Afghanistan ist dramatisch, Tausende versuchen in Panik zu fliehen.
- Die Bundesregierung reagiert erst jetzt. Offenbar trotz Warnungen aus der deutschen Botschaft in Afghanistan.
- Die Kritik vor allem an Innenminister Seehofer und Außenminister Maas ist riesig – FDP, Grüne und Linke zeigen sich entsetzt.
Kabul/Berlin - Die Taliban haben die afghanische Hauptstadt Kabul erreicht. Nun muss auch die Bundesregierung reagieren: CDU-Chef Armin Laschet forderte am Montag eine „Luftbrücke“ der Bundeswehr – und Rettung nicht nur für Ortskräfte des deutschen Militärs, sondern etwa auch für Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler aus dem Kriegsland. Ähnlich äußerte sich SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich.
Doch Kritik am Vorgehen der GroKo von Kanzlerin Angela Merkel* (CDU) kocht bereits hoch: Zu wenig, zu spät, lautet das harte Urteil der Opposition – unter anderem auch angesichts des vorangegangenen Zögerns bei der Aufnahme für Ortskräfte der Bundeswehr. Eine durchgesickerte Warnung aus der deutschen Botschaft in Kabul verschärfte die Lage. Sogar ein CDU-Abgeordneter räumte einen „gravierenden Fehler“ ein. In der Kritik steht aber auch der langjährige Bundeswehr-Einsatz als solcher.
Merkels Afghanistan-Kurs in der Kritik: „Planloses Last-Minute-Vorgehen“ – Reaktion könnte zu spät kommen
„Was wir im Moment sehen, ist ein ziemlich planloses Last-Minute-Vorgehen, das sehr frustrierend ist“, sagte etwa der FDP-Außenexperte Alexander Graf Lambsdorff dem rbb-Inforadio mit Blick auf jetzt erst anlaufende Pläne für ein Bundeswehrmandat für Evakuierungsmaßnahmen. Er gab Innenminister Horst Seehofer (CSU) eine Mitschuld. „Vor einigen Wochen gab es noch keine Bereitschaft des Innen- und auch des Außenministeriums, eine Umsetzung eines Evakuierungsplans anzugehen. Und das Ergebnis sehen wir jetzt. In der letzten Minute müssen jetzt Bundeswehrsoldaten einfliegen.“
„Man muss sich fragen, warum die Bundesregierung so überrascht wirkt vom schnellen Vorstoß der Taliban“, sagte auch Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter. „Es ist unverständlich, warum nicht schon spätestens vor einer Woche Leute aus Afghanistan* herausgeholt worden sind mit der Möglichkeit, Visa erst in Deutschland auszustellen“, fügte er am Sonntagabend in einem Gespräch mit der dpa hinzu.
Möglicherweise kommt die Maßnahme auch zu spät. Der Sicherheitsexperte der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Markus Kaim, geht davon aus, dass der Flughafen Kabul nicht mehr lange für Evakuierungsflüge genutzt werden kann. Es gebe noch ein Zeitfenster von vielleicht drei Tagen oder höchstens einer Woche. Allerdings will das Kabinett erst am Mittwoch – also in zwei Tagen – das Bundeswehrmandat auf den Weg bringen.
Afghanistan und ein „großer Fehler“: CDU stellte sich gegen Grünen-Antrag – Botschafts-Warnung durchgesickert
Der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter räumte auf Twitter gar einen „großen und gravierenden Fehler“ ein: Es sei falsch gewesen, im Juni einen Antrag der Bundestags-Grünen auf ein Gruppenverfahren zur „großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ abzulehnen. Kiesewetter ließ durchblicken, das Nein sei „aus Prinzip“ erfolgt.
Video: Kritik am Handeln der Bundesregierung
Unangenehm für Merkels Regierung ist auch eine nun durchgesickerte Warnung der deutschen Botschaft in Kabul: Diese hat einem Bericht zufolge beim Auswärtigen Amt über längere Zeit erfolglos auf die Gefährdung ihrer Mitarbeiter hingewiesen. Der stellvertretende deutsche Botschafter Hendrik van Thiel habe in seinem Lagebericht am Freitag geschrieben, „dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“ worden sei, berichtete das ARD-Hauptstadtstudio am Montag. „Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schief gehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen“, schrieb der Diplomat demnach weiter.
Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, verwies in einem Tweet auf eine Rede von Außenminister Heiko Maas (SPD), der noch Anfang Juni nicht von einer Machtübernahme der Taliban ausging. „Worauf basierte diese Lageeinschätzung?“, fragte sie. „Was für ein Versagen der Bundesregierung“, urteilte sie. Die CDU schob die Schuld Maas zu: „Der Außenminister hat die Lage wirklich falsch auch eingeschätzt“, sagte Klöckner am Montag beim Eintreffen zu Beratungen der CDU-Spitzengremien in Berlin. Erst jüngst hatte das Auswärtige Amt seine Lageeinschätzung angepasst*. Sogar Abschiebeflüge waren vergangene Woche noch geplant.
Flucht aus Afghanistan: CDU-Spitzenpolitiker wollen kein neues „2015“ – Merkel bringt Türkei ins Spiel
Klöckner und andere CDU-Politiker warnten am Montag vor einem starken Zuzug Geflüchteter aus Afghanistan nach Deutschland. Sie verwiesen auf die Nachbarländer Afghanistans als erstes Ziel für Flüchtende – auch, wenn zunächst vor allem die dramatischen Szenen am Flughafen von Kabul im Fokus standen. „Wir werden die Frage Afghanistan nicht durch Migration nach Deutschland lösen können“, sagte Generalsekretär Paul Ziemiak am Montag RTL und n-tv. Mit Blick auf den Zuzug zahlreicher Flüchtlinge aus Syrien vor sechs Jahren sagte Ziemiak: „Für uns ist auch klar, 2015 darf sich nicht wiederholen.“
Laschet forderte, die Flüchtlinge in der Region um Afghanistan zu betreuen. Die EU müsse sich „dafür einsetzen, dass die Hilfe dort Priorität hat“, schrieb Laschet auf Twitter. „Die meisten Menschen werden in die Nachbarländer fliehen“, schrieb er. Der CDU-Kanzlerkandidat hatte noch vor zwei Wochen fortgesetzte Abschiebungen nach Afghanistan gefordert – und dafür heftige Kritik erhalten. Merkel verwies in einer internen Äußerung auf die Rolle der USA beim Abzug und auf die Türkei als Hilfsgeber bei der Geflüchteten-Aufnahme*.
Laschet und SPD wollen nun auch Aktivisten evakuieren – FDP: „Alles ist zu spät“
Laschet verlangte zugleich eine breit angelegte Luftbrücke der Bundeswehr, die neben Deutschen und Ortskräften etwa auch Frauenrechtlerinnen aus Afghanistan holt. Es sei wichtig, dass die Bundeswehr ihre Luftbrücke so lange wie möglich aufrecht erhalte. Auch SPD-Fraktionschef Mützenich hält es für notwendig, den aus Afghanistan nach Deutschland zu bringenden Personenkreis deutlich auszuweiten. „Wir müssen sofort damit beginnen, eine weitaus größere Zahl an deutschen Staatsbürgern, einheimischen Helfern der Alliierten und andere gefährdete Personen aus dem Land zu holen und vor den Taliban zu retten“, sagte er der Rheinischen Post. „Ich rechne mit einer hohen vierstelligen bis fünfstelligen Zahl an Menschen, die wir in den nächsten Tagen und Wochen evakuieren müssen.“
Mützenich kritisierte – wie die Grünen – ein zu langsames Vorgehen der Bundesregierung, der allerdings auch seine SPD* angehört. „Ich erwarte von der gesamten Bundesregierung, dass es nun endlich keine bürokratischen Hürden mehr für die Ortskräfte gibt“, sagte er mit Blick auf frühere afghanische Mitarbeiter der Bundeswehr und anderer deutscher Stellen. „Da ist in den vergangenen Wochen zu viel Zeit verloren worden. Das war ein Fehler.“ Die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, sagte zu den Entwicklungen in Afghanistan im Radiosender Bayern 2: „Alles ist zu spät“. Ihre Partei habe jahrelang eine Exit-Strategie von der Bundesregierung gefordert, die sei aber nie gekommen.
Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan: Linke übt Kritik – Experte sieht Versäumnisse
Grundsatz-Kritik übte am Montag die Linke. „An die Bundesregierung: Holt jetzt die Leute raus!“, schrieb Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow auf Twitter. „Wenn Einsätze wie in Afghanistan in so einem Desaster enden, ist die Frage überfällig, was dieser Interventionismus soll“, schrieb sie. Der Spitzenkandidat der Linken, Dietmar Bartsch, forderte eine Kraftanstrengung, um eine „weitere humanitäre Katastrophe abzuwenden“. Dazu habe Deutschland „als bisherige Kriegspartei“ dort „die verdammte Pflicht und Schuldigkeit“
Zweifel gibt es auch an der konkreten Strategie des langjährigen Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan. „Wir hatten nie genug Truppen in Afghanistan, um eine Stabilisierung des Landes zu erzielen. Und wir waren auch nie bereit, genug finanzielle Ressourcen bereitzustellen“, sagte etwa der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr dem Münchner Merkur*. Auf politischer Seite sei der Einsatz krachend gescheitert, urteilte Masala. Er betonte allerdings auch, militärisch seien wichtige Ziele erreicht worden – etwa die Zerschlagung von Al-Kaida. Der Truppenabzug ist auch in den USA Anlass für heftige Kritik und Streitigkeiten. (fn mit Material von AFP und dpa) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.