Nach der Fehde zwischen dem Grafen von Arnsberg und dem Erzbischof von Köln als Vorlage für „Die Wölfin von Arnsberg“ verlegte sich Anja Grevener in ihrem Roman „Sündenbock“ auf das Kernthema „Hexenverfolgung“. Und dies ganz speziell an einem Hotspot in unserem Landstrich, dem Örtchen Balve. 300 von 6 000 Einwohnern fielen dort damals dem Hexenwahn zum Opfer.
Einige Zeit nach dem „Sündenbock“, 2018 bei einem Ausritt durch den Mendener Wald, hielt plötzlich ein alter Mercedes neben ihr. Ein Nachbar stieg aus. Man kam ins Gespräch und er meinte unvermittelt: „Du hast doch das Buch über die Hexenverfolgung in Balve geschrieben – wie war das denn damals hier bei uns?“ Eine gute Frage, die Autorin Grevener schnell begeisterte – die Geburtsstunde für ihr aktuelles Buch.
Für das hat sie in den Dörfern und Orten zwischen Soest und Bilstein recherchiert, ist quasi selbst auf den historischen Giebeln zwischen Winterberg und Neuenrade geritten. Aus Recherche und Sammlung fügte sie schließlich 23 Geschichten zusammen, die das Thema in seinen regionalen und geschichtlichen Facetten ausleuchten.
Allein in ihrem Geburtsdorf in Menden-Böingsen, vor 500 Jahren (und heute immer noch) kaum mehr als eine kleine Ansammlung von Häusern, das Leben eher schon Familie denn Dorfgemeinschaft, fiel die Hexenjagd wie eine Seuche ein und kostete wenigstens sieben Menschenleben.
Anja Grevener macht sich auf die Suche nach dieser Seuche. Welche Erreger hat sie, welche Symptome? Und sie stellte fest, dass selbst der „aufgeklärte“ Mensch noch kein Serum dagegen gefunden hat. Misstrauen, Neid, Missgunst, Gier, Machthunger – diese Viren vergiften auch heute Beziehungen, Gemeinschaften und Völker.
Wie sie funktionieren, wie aus Verleumdung Verdacht, aus Verdacht Anklage und daraus Verurteilung und Vernichtung wird – das offenzulegen, bietet die Möglichkeit, zu erkennen und sich ein Stückweit selbst zu impfen.
Das dunkle Zeitalter der Hexenverfolgung und seine Systematiken herauszustellen, ist für Anja Grevener ein geeignetes Medium, um diese Immunisierung zu fördern.
Die Daten und Rahmenbedingungen jener Zeit, das Denken und Handeln der Menschen – wenn man sich in diese Felder hineingedacht, wenn man sich eingearbeitet hat, muss nicht jeder Satz historisch verbrieft, nicht jede kleine Handlung auch genau so geschehen sein. Anja Grevener interpoliert, entwickelt die Handlung ihrer Kurz-Romane wie eine Rekonstruktion der Zeit.
„Genau so könnte es gewesen sein“. Das Skelett der jeweiligen Geschichte, die tragende Konstruktion, das sind überlieferte Darstellungen aus den verschiedenen Quellen, die Anja Grevener für ihren Giebelritt zusammengetragen hat. Das Fleisch der Erzählung hat sie dann wie ein Gerichtsmediziner anmodelliert.
Die Wickede am nächsten gelegene Geschichte in Greveners Band ist die Hexenjagd auf Blesien Billi und Franz Hellmich aus Oesbern: „Dieses menschliches Drama zwischen Freiheit und Kummer um die Familie“, hat die Wickeder Autorin als ein Aspekt besonders berührt.
Oder die Tragödie aus Soest, bei der ein Vater die Stieftochter erschlägt und dann so lange seine Frau denunziert, bis diese schließlich zu Tode und er an den Hof kommt. Besonders tragisch auch die Geschichte aus Oberkirchen: Ein traumatisiertes Kind mit seiner überbordenden Phantasie denunziert 15 Menschen aus seinem Umfeld und löst eine Prozesslawine aus, die 58 Menschen das Leben kostet.
Den direkten Bogen in unsere Zeit schlägt Anja Grevener im „Giebelritt durchs Sauerland“ gleich in der ersten Geschichte: Ein fiktiver Dialog mit Bezügen zu ehedem lebenden Menschen, der sowohl als Unterhaltung im Wirtshaus als auch am Handy als WhatsApp-Post laufen könnte. Das Ende: Sechs Frauen aus Winterberg wurden am 15. Juli 1523 auf dem Scheiterhaufen hingerichtet.
Dem Auftakt folgen Geschichten von Denunziation, Verleumdung und Verfolgung, ein Phänomen, dem der Einzelne selbst heute zumeist ohnmächtig gegenübersteht.
Vom ersten Gerücht und der Einholung, von der erst gütlichen Befragung mit dem Angebot, etwas zu gestehen, über die Androhung der Folter, schließlich der Folter selbst, die eigentlich „nur“ dreimal eingesetzt, aber „unterbrochen“ und damit sooft wie gewollt wiederholt werden konnte, von dem unter Qualen erpressten Geständnis, das man vor der schließlichen Hinrichtung noch einmal ohne Folter zu wiederholen hatte, sonst drohte erneut der Folterknecht – auch von solchen Tragödien erzählen Greveners Geschichten.
Wer mehr lesen und sich vertiefen möchte in unsere Region vor 500 Jahren und in die vielen Schicksale der Hexenverfolgung: Der „Giebelritt durchs Sauerland“ der Wickeder Autorin Anja Grevener ist erschienen im Woll-Verlag in Schmallenberg und damit passend zum Thema aus der Region für die Region.
Wer das Buch kennenlernen möchte und dies dann auch gleich bei einer atmosphärisch anregenden Lesung erleben will, sollte sich schon einmal den Termin im September vormerken: Am 16. September wird die Wickeder Autorin wie bereits seinerzeit aus ihrem „Sündenbock“ dann in der Bücherei im Bahnhof aus ihrem jüngsten Buch „Giebelritt durchs Sauerland“ vorlesen.