Olesia und Oksana versuchen sich im Unnormalen zumindest etwas Normalität zu schaffen. Sie haben ihre Wohnung ein wenig weihnachtlich dekoriert und sich auch auf neue Bräuche eingelassen. Kerzen auf einem Adventskranz anzünden – „das kannten wir vorher gar nicht”, sagt Olesia. Und von einer Bekannten aus Hilbeck bekam sie den ersten Adventskalender ihres Lebens geschenkt. Gefüllt mit Socken, erzählt Olesia, lacht und zeigt auf ein Paar, das sie bereits trägt.
Im Flur hängt ein leuchtender Stern an der Decke. Etwas Licht in einer dunklen Zeit. Selbst die Menschen in Charkiw ertrotzen sich ein wenig Weihnachtsstimmung. Olesia zeigt auf ihrem Handy das Bild eines prächtigen Weihnachtsbaums. Weil die Stadt so nah an Russland liegt, dass jederzeit Raketen einschlagen könnten, wurde der Baum nicht wie sonst auf einem großen Platz, sondern in einer U-Bahn-Station aufgebaut.
Oksana und Tetiana gehen regelmäßig zum Integrationskurs. Olesia studiert soziale Arbeit an der Universität in Charkiw und versucht am Online-Unterricht teilzunehmen, soweit es die Internetverbindung zulässt. Außerdem stürzt sie sich in die Freiwilligen-Arbeit im Dorf, ist begeistert von dem Netzwerk an Helfern, das in Hilbeck entstanden ist und kann sich vorstellen, später in der Ukraine ähnliches aufzubauen.
Von der Millionenstadt nach Hilbeck – für Olesia ist das kein Problem. Im Gegenteil: „Für mich ist das der perfekte Ort. Es ist hier nicht so anonym wie in der Großstadt.” Begeistert berichtet sie vom Miteinander auf dem Hilbecker Weihnachtsmarkt. Auch Mutter Oksana fühlt sich wohl: „Es ist ruhig und sicher, und die Menschen sind nett.” Sie sei sehr dankbar für die große Unterstützung der Gastgeber.
Hinzu komme die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Ukrainern – insgesamt leben sechs Familien in Hilbeck. Oksana, die in Charkiw als Buchhalterin arbeitete, ist begeistert vom deutschen Engagement für den Klimaschutz und von der Mülltrennung. Davon könnten sich die Ukrainer etwas abgucken, findet sie. Auch E-Bike-Fahren finde sie toll. Einziger Nachteil am Dorfleben: „Der Bus fährt nur einmal pro Stunde”, sagt Oksana und lacht.
Spätestens seit dem Angriff Russlands sind auch die Bräuche ein politisches Thema geworden. Als orthodoxe Christen feiern Oksana und Olesia eigentlich am 6. und 7. Januar Weihnachten. Es gebe inzwischen aber auch immer mehr Ukrainer, die am 24. und 25. Dezember feiern, um sich von Russland zu distanzieren, erläutert Olesia. Normalerweise seien der 6. und 7. Januar der Familie vorbehalten. Es gibt ein Essen mit zwölf Gängen. Der wichtigste sei der erste, die Kutja. Eine Süßspeise, die aus Getreide oder Reis, Nüssen, Honig, Mohn und Trockenfrüchten wie Rosinen besteht. Jeder müsse zumindest etwas davon essen, bevor die nächsten Gänge serviert werden.
Wie Oksana und Olesia die Tage verbringen, wissen sie noch nicht. „Es wird das erste Weihnachten seien, dass ich ohne meine Patin feiern muss”, sagt Olesia. Sie hofft, dass die Internetverbindung funktioniert und sie den Rest ihrer Familie zumindest auf dem Bildschirm sehen kann. Ihr Vater und Bruder sind in Charkiw geblieben, ihr Freund lebt inzwischen im Westen der Ukraine. Auch Tetianas Tochter lebt wieder in Charkiw. Sie war zunächst mit nach Deutschland gekommen, wollte aber wieder zurück zu ihrem Mann.
Den Weihnachtsbaum stellen Oksana und Olesia in ihrer Heimat normalerweise an Silvester auf. Zur Begrüßung des neuen Jahres gebe es auch die Geschenke. Dieses Jahr wollen sie den Jahreswechsel gemeinsam mit Großeltern, Tante und Cousine feiern, die ebenfalls nach Deutschland geflüchtet sind und im Rheinland wohnen. Tetiana feiert gemeinsam mit der Schwester ihres Schwiegersohns und deren Kindern, die auch in Hilbeck untergekommen sind.
Acht Monate leben Oksana, Olesia und Tetiana nun schon in Hilbeck. Solange es nicht zumindest einen Waffenstillstand gibt, sei eine Rückkehr zu riskant, sagt Olesia. Doch auch wenn darauf zurzeit nichts hindeutet, gebe sie die Hoffnung nicht auf.
Immerhin gebe es ihr Zuhause noch, sei es bislang nicht bei Angriffen zerstört worden. „Ich versuche mich auf die positiven Nachrichten zu konzentrieren und die negativen auszublenden”, erzählt Olesia. Ihrer Mutter geht es ähnlich. Natürlich sei das alles schwierig für sie. Sie fühle oft eine Art Leere. „Deshalb versuche ich zwischendurch, an andere Dinge zu denken.”
Alle drei hoffen, dass sie das nächste Weihnachtsfest wieder im Kreise ihrer Familie in ihrer Heimat feiern können. Und Tetjana, die vor dem Krieg als Personal-Managerin an der Universität arbeitete, wünscht sich, worauf andere in normalen Zeiten manchmal gerne verzichten würden: „Ich möchte einfach nur wieder jeden Tag ganz normal ins Büro gehen.”