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Nach schwerem Bahn-Unfall an Anrufschranke: Gericht bezweifelt Sicherheit

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Von: Gerald Bus

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Unfall am Bahnübergang Tiggesloh
Unfall am Bahnübergang Tiggesloh © Thomas Nitsche

Die Schlagbäume senkten sich in Sekundenschnelle mit schwer wiegenden Folgen. Zivilrichter Grundmann aber nahm sich am Montagmorgen erheblich mehr Zeit, bevor er im Prozess nach einem Kutsch-Unfall am Bahnübergang Tiggesloh (Holtum) zumindest verbal den Daumen über die DB Netz AG senkte. „Ich habe erhebliche Bedenken, ob das eine ordnungsgemäße Sicherung ist, nur Lautsprecher anzubringen“, sagte der Richter am Ende der 90-minütigen Beweisaufnahme.

Werl - Und es sei „merkwürdig“, dass der Fahrdienstleiter in Soest von jenem Unfall vor fast drei Jahren nichts gehört haben will. Zwar will der Richter erst in gut drei Wochen das Urteil verkünden. Aber eine Richtung gab er vor: Die Bahn hätte offenbar „mehr Sicherungsmaßnahmen treffen müssen“.

Vor allem wunderte den Richter die Aussage des Fahrdienstleiters, auch vom Unfall selbst nichts gehört zu haben, obwohl die Lautsprecheranlage funktioniert hat. „Da sind auf jeden Fall Geräusche entstanden“, sagte der Richter; der Anwalt von Kläger Franz Neuhaus sprach von „richtig Krach“. Der Anwalt der beklagten DB Netz betonte, dass Anrufschranken „grundsätzlich geeignet“ seien, Schienenverkehr abzusichern. Die Anlage am Tiggesloh habe damals „ordnungsgemäß funktioniert“. Auch er räumte ein, dass man beim Überqueren etwas hätte hören müssen – sowohl die Warnung des Fahrdienstleiters, als auch „Geräusche, dass etwas passiert ist“.

Gut, dass die Pferde sich befreit haben, sonst hätten sie uns die Kutsche über den Kopf gezogen.

Kläger Franz Neuhaus

Es war der 3. Juni 2018, ein Sonntag, als Neuhaus vormittags in Begleitung zweier Freunde das Pferdegespann Richtung Brünningsen lenkte. Die Männer, alle Mitglieder des Vereins für Kultur und Brauchtumspflege in der Landwirtschaft, hätten in rund 700 Meter Entfernung die geöffneten Schranken gesehen, schilderte Neuhaus vor Gericht. Im Schritttempo ging es darauf zu, es habe keine Nebengeräusche gegeben, aber eben auch keine Warnhinweise. Als sich die Kutsche auf dem Übergang befand, habe sich die Schranke „in Windeseile gesenkt“, schilderte der Holtumer, der die Kutsche lenkte. Es habe ihm die Leine aus der Hand gerissen, er und sein Mitfahrer hätten in einer Abwehrbewegung den Schlagbaum zur Seite gedrückt, als auch schon die Pferde durchgingen „im gestreckten Galopp“. Keine Zeit für eine Reaktion, „die Pferde haben uns die Entscheidung abgenommen“ – und traten die Flucht nach vorn an.

Kutschfahrt endet abrupt im Graben

In einem Graben 100 Meter entfernt, zugewachsen mit Brennnesseln, endete die Fahrt, als die Kutsche darin abrupt zum Stillstand kam. Neuhaus flog kopfüber zwischen die Pferde, der eine Mitfahrer ins Feld, den dritten riss es auf den Kutsch-Boden. Es sei „dramatisch“ gewesen, sagte Neuhaus. Zum Glück („Ein Wunder, dass sie losgekommen sind“) hätten sich die Pferde losgerissen und seien weggelaufen. Nicht weit, dann legte sich eines hin, weil sich eine Kette ums Hinterbein gewickelt hatte. „Gut, dass sie sich befreit haben, sonst hätten sie uns die Kutsche über den Kopf gezogen“, sagte Neuhaus.

Blaue Flecken, ein Schock und eine beschädigte Kutsche waren die Folgen: die Deichsel gebrochen, der Vorderwagen verzogen. Per Tastendruck an der Sprechanlage habe man über den Unfall informiert. Und es sei gut, dass der Schlagbaum der Schranke abgerissen war. „Sonst hätte uns das Ding erschlagen.“

Die Schranken kamen verdammt schnell runter.

Zeuge Franz Göers

Franz Göers saß hinten in der Kutsche, bestätigte den Vorfall. „Die Schranken kamen verdammt schnell runter“, sagte der 81-Jährige. Eine warnende Durchsage habe es nicht gegeben. Als die Kutsche später im Graben zum Stillstand kam, habe es „richtig gerummst“. Und Neuhaus habe Dutzende Schutzengel gehabt. „Wenn die Pferde auf ihn getreten wären, säße er nicht hier.“

Fahrdienstleiter hat nichts gehört

Der heute 63-jährige Fahrdienstleiter, der an jenem Unfalltag Dienst hatte, schilderte seine Erinnerung. In Werl habe ein Zug zur Abfahrt bereitgestanden; und er habe wie üblich gelauscht, ob die Lautsprechanlage am Bahnübergang etwas meldet. „Aber ich habe nichts gehört.“ Also habe er kurz nach dem obligatorischen Warnhinweis die Schranken mit den Tasten zu schließen versucht. Ein Vorgang, der geschätzt gut 30 Sekunden dauere. Allerdings meldete das System einen Fehler. Danach habe er es erneut versucht, vergeblich.

Also habe er dem Zug einen schriftlichen Auftrag erteilt, den Bahnübergang Tiggesloh selber zu sichern. „Der Lokführer sah schon von weitem, dass die Schranke kaputt war“, sagte der Bad Sassendorfer. Weder vor, noch beim Unfall habe er etwas aus der Anlage gehört, schilderte der Mann. Dabei höre er üblicherweise den Übergang weiter ab, „es kann ja immer mal was sein.“ Erst später habe jemand gemeldet, dass es einen Unfall gab. In der Regel höre er alles, was passiert, „in diesem Fall aber nicht“. Was Neuhaus erstaunte: „Sie müssen uns doch gehört haben, wir sind ja nicht drüber geflogen“. Der Fahrdienstleiter betonte: Er sei sicher, den Schließhinweis gegeben zu haben.

Seine Kollegin hatte im Zeugenstand keine Erinnerung an die Geschehnisse. Ihr sei nichts aufgefallen. Aber der Schließvorgang würde ihrer Einschätzung nach weniger als 30 Sekunden dauern.

Aber wir erleben bei Anrufschranken ganz viel Negatives.

Der Fahrdienstleiter vor Gericht

Anrufschranken sind in der Regel geschlossen, werden auf Zuruf geöffnet. Sie funktionieren allein über akustischen Austausch zwischen Fahrdienstleiter und Nutzer. Man dürfe aber die Schranken offen lassen, wenn es länger als 15 Minuten keinen Zugverkehr gibt, sagte der Fahrdienstleiter. Die Mikrofone seien so sensibel, dass man sogar Wind hören könne. „Aber wir erleben bei Anrufschranken ganz viel Negatives“, räumte der Zeuge ein. Allerdings gehört die Anrufschranke Tiggesloh bald der Vergangenheit an. Sie wird zurzeit umgebaut auf eine automatische Halbschranken-Regelung.

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