Die Zeiten der Expansion sind allerdings schon lange vorbei: „Vor fünf Jahren haben wir den Klinikbetrieb eingestellt, wegen Personalmangels, und jetzt, zum 1. August, fällt die Nachtschicht weg.“
Lindenstruth arbeitet seit 30 Jahren in der Werler Kleintierpraxis und ebenso lange macht sie regelmäßig Nachtschichten. „Seit Dezember suchen wir Verstärkung, da eine Kollegin abgeworben worden ist und eine weitere zur Facharztausbildung die Praxis wechseln muss.
Früher haben sich 50 Tierärzte auf eine Stelle beworben, heute können sich die Bewerber die Stelle aussuchen“, sagt sie resigniert. Sie selbst „kann und will keine Nachtschichten und -bereitschaften mehr machen. Wir können nur noch Notfallsprechstunden an den Wochenenden und Feiertagen anbieten.“
„Auch die Kleintierkliniken Geseke und Ahlen bieten keinen 24-Stunden-Betrieb mehr an“, weiß die Tierärztin. Schlechte Zeiten für schwerkranke Tiere in Not.
Der Mangel an Nachwuchs – nicht nur in Werl – rühre daher, dass 90 Prozent der Tierärzte weiblich sind, weiß man bei der Tierärztekammer Westfalen-Lippe. Die männlichen Abiturienten würden den Numerus Clausus (NC) für Tiermedizin nicht schaffen, sagt die Werler Veterinärin, und „die jungen Leute wollen keinen Schichtbetrieb, sondern Work-Life-Balance und irgendwann auch mal eine Familie gründen.“
Außerdem hat es sich beim Nachwuchs offenbar herumgesprochen, dass man in anderen akademischen Berufen mehr verdienen kann. „Die Gebührenordnung für Tierärzte ist von 1999“, sagt Lindenstruth.
Etliche Tierarztpraxen würden schon in eine gefährliche finanzielle Schieflage geraten, wenn eine angestellte Tierärztin mehrere Kinder hintereinander bekomme und jahrelang wegbleibe. „Bei uns bewerben sich nur Leute, die kaum Deutsch sprechen. Wir haben es schon mehrfach mit solchen Bewerbern versucht, aber das hat nicht funktioniert.“
Die Zahl der Kliniken und Praxen sinkt, die der Haustiere wächst. Corona hat für einen Haustier-Boom gesorgt. Aus Sicht der Tierärztekammer Westfalen-Lippe besteht ein Mangel an Veterinärmedizinern.
„Ein wichtiger Grund für diesen Rückgang dürfte sein, dass die tierärztlichen Kliniken für Kleintiere verpflichtet sind, ständig dienstbereit und besetzt zu sein. Es wird jedoch zunehmend schwieriger, das notwendige Personal für die Abdeckung der Notdienstzeiten zu finden“, teilt Dr. Mechthild Lütke Kleimann, Haupt-Geschäftsführerin der Tierärztekammer Westfalen-Lippe, mit.
Die Werler Kleintierpraxis steht kurz vor dem Aufnahmestopp neuer Patienten. Früher haben neun Tierärzte dort gearbeitet. Bald sind es nur noch drei Festangestellte und zwei Teilzeit-Tierärzte. Das bedeutet Stress und Überlastung, zumal Herrchen und Frauchen auch nicht gerade pflegeleichter werden, wie die Tierärztin festgestellt hat.
„Da herrscht ein Anspruchsdenken vor, das gab es früher nicht: Die bestellen nachts um 1 Uhr Futter bei uns und um 3 Uhr kommt jemand mit einem aufgeblähten Kaninchen mit blutigem Durchfall, das aber bereits seit einer Woche Probleme hat.“
50 Prozent der Neukunden würden ihre Rechnungen erst einmal nicht bezahlen, etliche seien schon am Telefon aufbrausend und aggressiv und viele würden ihre Rechtsschutzversicherung nutzen, „um uns wegen Blödsinn zu verklagen“, sagt Heike Lindenstruth. Auch deswegen sei jetzt mehr Bürokratie nötig.
„Wir sichern uns überall schriftlich ab. Lassen uns Aufklärungszettel unterschreiben, Datenschutzerklärungen und mehr.“ Unangenehm sei es, wenn Kunden mithilfe des Internets Diagnosen stellen würden. Da sagt sie: „Dr. Google hat Pause, ich bin die Tierärztin.“ Trotzdem möchte sie ihren Beruf nicht missen: „Die meisten Tierbesitzer sind nett, und es ist immer wieder schön, einem schwerkranken Tier helfen zu können.“