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96 Stunden in Klinik gefesselt, nur bei OP frei: JVA-Insasse hat Erfolg mit Verfassungsbeschwerde

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Von: Gerald Bus

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Die Sicherungsverwahrung der Landes NRW ist an der Werler JVA konzentriert. Für Ausführungen gelten bestimmte Bedingungen.
Die Sicherungsverwahrung der Landes NRW ist an der Werler JVA konzentriert. Für Ausführungen gelten bestimmte Bedingungen. © Maaß

Ein Sicherungsverwahrter (SVer) der Justizvollzugsanstalt Werl hat sich mit Erfolg gerichtlich gegen eine 96-stündige Fesselung während eines Krankenhausaufenthalts gewehrt.

Werl – Ein Sicherungsverwahrter (SVer) der Justizvollzugsanstalt Werl hat sich mit Erfolg gerichtlich gegen eine 96-stündige Fesselung während eines Krankenhausaufenthalts gewehrt. Das Bundesverfassungsgericht legt stattdessen den Justizbehörden Fesseln an, deren Maßnahmen unverhältnismäßig gewesen seien – und gab dem Kläger bei seiner Verfassungsbeschwerde recht. Er sei in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt worden.

Laut eines Anfang März veröffentlichten Beschlusses entschieden die Karlsruher Richter, „dass die sich über 96 Stunden erstreckende Fesselung während eines Krankenhausaufenthalts den sicherungsverwahrten Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt hat“.

Sicherungsverwahrter musste operiert werden

Der Kläger war nach zehn Jahren Haft im Februar 2020 in die Sicherungsverwahrung (SV) in Werl verlegt worden. Vom 13. bis zum 16. Oktober 2020 musste er zur stationären Behandlung in eine Universitätsklinik. Vor und nach dem Transport in die Klinik sei er auf Grundlage einer JVA-Hausverfügung vollständig entkleidet durchsucht worden.

Die Fahrten zwischen JVA und Krankenhaus seien mitsamt Handfesselung in Begleitung zweier bewaffneter Bediensteter erfolgt, auch bei der Voruntersuchung war er gefesselt. Am Morgen des 14. Oktober sei er gefesselt am Fuß im Bett in den OP-Vorraum gebracht worden, danach erneut an den Händen. Nur während der Vollnarkose sei die Fessel entfernt und nach dem Aufwachen erneut angelegt worden. Nach zwei Stunden im Aufwachraum gab es eine Fixierung per Fußfessel am Bettrahmen, und zwar für weitere drei Tage.

Fesselung „hat Schmerzen bereitet“

Mehr als 96 Stunden ununterbrochen gefesselt, das habe ihn in Bewegungsfreiheit und Schlaf beeinträchtigt, klagte der SVer. „Mit der am Bettrahmen befestigten Fußfessel sei ein Drehen oder Anwinkeln der Beine nicht möglich gewesen. Die Fesselung habe ihm Schmerzen bereitet“, teilt das Bundesverfassungsgericht mit. Auch bei den durch zwei bewaffnete Bedienstete bewachten Klinik-Spaziergängen sei er „auf unangenehme Weise“ an den Händen gefesselt gewesen.

JVA Werl hatte Maßnahme begründet

Die Karlsruher Richter beziehen sich auch auf Angaben der JVA Werl: Die Fesselungsanordnung sei rechtmäßig gewesen. Denn es habe einen „Fluchtanreiz“ gegeben, allein schon wegen des noch unbekannten Endes der SV. Bei einem Transport ins Krankenhaus sei die Situation unübersichtlich. Eine ungefesselte Ausführung sei nur möglich, wenn der Untergebrachte frühere gefesselte Ausführungen beanstandungsfrei absolviert habe – was auf den Beschwerdeführer nicht zutreffe. Demnach sah die JVA ein Sicherheitsrisiko.

Kläger war am Landgericht gescheitert

Vor dem Landgericht Arnsberg war der Kläger im Mai 2021 mit seiner Klage gescheitert: Die Entscheidung der JVA, dass die Fesselung erforderlich gewesen sei, sei „nicht zu beanstanden“, die „Fluchtmotivation“ nachvollziehbar. Außerdem sei die Situation im Krankenhaus auch wegen des Publikumsverkehrs unvorhersehbar gewesen. Kurz: die Maßnahme sei „verhältnismäßig“ gewesen. Die unterschiedlichen Fesselungen hätten jeweils der „mildesten Art“ entsprochen, seien auch medizinisch unbedenklich gewesen. Gegen den Landgerichts-Beschluss hatte der SVer Rechtsbeschwerde beim Oberlandesgericht eingelegt. Das OLG verwarf diese aber im August 2021 als „unzulässig“.

Also legte der Mann Verfassungsbeschwerde ein, weil die mehrtägige Fesselung ihn in seinen Grundrechten verletzt habe. Die körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung hatte er hingegen nicht beanstandet.

Bundesverfassungsgericht sieht „gewichtigen Eingriff“

Laut der Verfassungsrichter sei die Beschwerde „offensichtlich begründet“. Bei einer Anordnung zur Fesselung handele es sich um einen „gewichtigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Gefangenen“. Dabei sei die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen. Der beziehe die individuelle Vorgeschichte und den Gesundheitszustand des Gefangenen, ein mögliches gefährliches Vorverhalten in der Haft sowie die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung ein. Die Zwangsanwendung per Fessel sei „auf das unausweichliche Maß zu beschränken“.

Die sich über 96 Stunden erstreckende Fesselungsmaßnahme überschreitet jedenfalls in der vorliegenden Konstellation das verfassungsrechtlich zulässige Maß.

Das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung

Die Karlsruher Richter melden mit Blick auf die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention verfassungsrechtliche Bedenken an, wenn eine JVA ohne Prüfung zum Beispiel der individuellen Fluchtgefahr beaufsichtigte Ausführungen nur erlaubt, wenn der Gefangene gefesselt ist. Die Beschlüsse von Landgericht und OLG seien den Vorgaben nicht gerecht geworden. Das Landgericht habe die Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts „nicht hinreichend beachtet, indem es die über vier Tage andauernde Fesselung des gesundheitlich beeinträchtigten Beschwerdeführers als verhältnismäßig angesehen hat“.

Kritik an fehlender Alternative

Insbesondere sei die Dauer kritisch. „Die sich über 96 Stunden erstreckende Fesselungsmaßnahme überschreitet jedenfalls in der vorliegenden Konstellation das verfassungsrechtlich zulässige Maß“, urteilt Karlsruhe. Es hätte, so Karlsruhe, Alternativen gegeben. Angesichts der mehrtägigen Verweildauer in der Klinik hätte es nahegelegen, die Fesselung phasenweise auszusetzen „und in diesen Zeiträumen gegebenenfalls die Zahl der beaufsichtigenden Vollzugsbeamten zu erhöhen.“

Auch hätten die gesundheitlichen Belastungen des Mannes ebenso berücksichtigt werden müssen wie sein zuvor beanstandungsfreies Vollzugsverhalten und die attestierten Erkrankungen, die ein Entweichen erschwert hätten. Nicht zuletzt fehle es an einer ausreichenden Dokumentation. Dass sich das OLG den Beschluss des Landgerichts zu eigen gemacht hat, verletze den Kläger ebenfalls in seinem Persönlichkeitsrecht. Das OLG habe damit die Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verkannt.

Nach dem Entscheid samt Aufhebung der Beschlüsse muss sich das Landgericht nun neu mit der Sache befassen.

Aktenzeichen 2 BvR 1719/21

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