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„Das hier ist meine Liebe“: Schuhmacherin ist eine der Letzten ihrer Art

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Von: Dominik Maaß

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Heike Gülde in ihrer Schuhmacher-Werkstatt an der Bachstraße. Sie führt den Betrieb in der dritten Generation.
Heike Gülde in ihrer Schuhmacher-Werkstatt an der Bachstraße. Sie führt den Betrieb in der dritten Generation. © Maaß

Wer die Werkstatt von Heike Gülde betritt, würde sich vermutlich kaum wundern, wenn auf ihrem Arbeitstisch plötzlich der Pumuckl sichtbar wird. Das kleine Hinterhof-Gebäude an der Bachstraße wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen. Eben fast wie die Schreinerwerkstatt von Meister Eder. Nur, dass hier nicht Schubladen und Schränkchen repariert werden, sondern Schuhe. Heike Gülde ist Schuhmacher-Meisterin und damit eine der Letzten ihrer Art.

Werl – Eigentlich ist es paradox: Alle reden von Nachhaltigkeit, doch viele Schuhe landen schon nach kurzer Zeit im Müll. Das klassische Schuhmacher-Handwerk wird immer seltener. Bis vor kurzem hat auch noch der Schlüsseldienst Noisten einfache Schuhreparaturen angeboten, diesen Service aber nun aus „betriebswirtschaftlichen Gründen“ aufgegeben. Abgesehen von den Anbietern, die sich auf Orthopädie spezialisiert haben, ist Gülde nun in Werl die letzte Anlaufstelle für Kunden, die ihren abgelaufenen Schuhen ein zweites, drittes oder gar viertes Leben gönnen wollen.

Kunden, wie Denis Oliana. Der 42-Jährige trägt seine rotbraunen Leder-Halbschuhe inzwischen seit zehn Jahren, hat sie einst für die Hochzeit eines Freundes gekauft. Gülde hat ihnen neue Absätze verpasst. Schöne Schuhe seien ihm einfach wichtig, sagt der Werler. „Ich kaufe lieber einmal ein ordentliches Paar, als fünfmal Müll.“

Sätze, die Gülde aus der Seele sprechen. Und tatsächlich steht Oliana stellvertretend für eine steigende Zahl an jüngeren Kunden. Insbesondere seit der Corona-Krise habe der Zulauf zugenommen, sagt Gülde. Genug qualitätsbewusste Kunden, um alleine davon zu leben, seien es allerdings nicht.

Heike Gülde ist seit vier Jahren nur noch Schuhmacherin im Nebenerwerb, arbeitet hauptberuflich im Einzelhandel. Die 58-Jährige musste aus gesundheitlichen Gründen kürzer treten, öffnet ihr Geschäft nur noch einmal die Woche. „Es ist ein körperlich sehr anstrengender Beruf. Das unterschätzen viele.“ Doch ihre Werkstatt schließen? Das kommt für Gülde nicht in Frage. „Das hier ist meine Liebe. Mein Herz hängt daran“, zeigt sie auf die alten Maschinen, die vielen Schuhe, Sohlen und Leisten, die in einer nicht gleich offensichtlichen Ordnung, um sie herum stehen, liegen und hängen. Die Werkstatt atmet die Geschichte von drei Generationen. „Die meisten Kunden sagen, es riecht hier so gut“, sagt Gülde und muss über das Urteil lachen. Tatsächlich ist es eine ganz eigenartige Mischung aus Leder, Gummi, Klebstoff, Schuhcreme und Schweiß.

Schuster, die Bezeichnung hört Heike Gülde nicht gerne

So riecht es wohl nur in einer Schusterwerkstatt, Verzeihung, bei einer Schuhmacherin. Den Begriff Schuster hört Gülde nämlich gar nicht gerne. Der ausgebildete Handwerker sei nun mal der Schuhmacher, habe umfassende Kenntnis in Materialkunde und Anatomie. Schließlich sei ein guter Schuh nicht nur für die Füße wichtig, sondern für die gesamte Statik des Körpers und könne zum Beispiel schmerzhaften Haltungsschäden im Alter vorbeugen.

Den Grundstein für den heutigen Betrieb legte einst Güldes Opa, später übernahm ihr Vater Heinrich Höber. Und der habe sie überredet, es ihm gleich zu tun. „Ich wollte eigentlich Diät-Köchin im Krankenhaus werden.“ Doch aus der schon zugesagten Ausbildungsstelle wurde nichts. Mangels Alternativen fing Gülde doch bei ihrem Vater an. „Ich habe es erst gehasst, aber dann doch geliebt. Ich habe gemerkt, ich bin für das Handwerk geschaffen.“ Heute ist Heike Gülde ihrem schon lange verstorbenen Vater dankbar. Mit 24 bestand sie die Meisterprüfung, mit 30 übernahm sie den Betrieb. Der Vater packte aber bis zu seinem Tod weiter mit an.

Was Gülde so sehr liebt an ihrem Handwerk? „Ich helfe gerne und freue mich, wenn ein Kunde zufrieden ist, wenn er immer wieder kommt.“ Und jeder Schuh sei ein Unikat. „Ich nehme jeden Schuh als meinen eigenen an und behandele ihn auch so.“ Die meisten Kunden sind ihr seit Jahren treu. Und das merkt man, wenn sie den Laden betreten. Mit jedem hält Gülde einen kurzen Plausch. So viel Zeit muss sein, trotz der Schuhe, die sich in der Werkstatt stapeln. Gülde hat sich deshalb vorgenommen, nicht mehr alles anzunehmen. Die Kunden sollen ja nicht ewig warten.

Vom Gras-Auffangsack bis zum Lederlenkrad

Als nächstes betritt eine ältere Dame mit einer Handtasche das Geschäft. Der Riemen ist an einer Seite abgerissen. Wegschmeißen? „Wieso? Da ist noch nichts dran“, schüttelt die Frau verständnislos den Kopf. Gülde ist für ihre Kunden so eine Art Problemlöserin. Und das nicht nur für neue Sohlen und Absätze und das Weiten von Winterschuhen. Über die Jahre habe sie schon ganz verschiedene Dinge repariert, von Tornistern, über Lederlenkräder bis hin zu Gras-Auffangsäcken von Rasenmähern. Einmal habe sie sogar orthopädische Schühchen für einen Hund angefertigt.

Martina und Martin Noisten arbeiten noch die letzten Aufträge ab. Dann ist mit dem Schuhservice Schluss.
Martina und Martin Noisten arbeiten noch die letzten Aufträge ab. Dann ist mit dem Schuhservice Schluss. © Maaß, Dominik

Mit dem Kürzertreten könnte das für Gülde in nächster Zeit so eine Sache werden. Die Zahl der potenziellen Kunden dürfte steigen, nachdem Martina und Martin Noisten vom Schlüsseldienst an der Walburgisstraße ihren Schuhreparatur-Service gerade aufgegeben haben. „Es lohnt sich einfach nicht mehr“, sagt Martin Noisten. Als er den Schlüsseldienst vor 26 Jahren übernommen hat, habe der Schuhbereich noch die Hälfte des Gesamtumsatzes ausgemacht. Inzwischen seien es weniger als 2 Prozent.

Noistens wollen sich deshalb auf die Geschäftsfelder konzentrieren, die besser funktionieren und die sie bewusst in den vergangenen Jahren ausgebaut haben: Schlüsseldienst, Schließanlagen und Sicherheitstechnik.

Da mit diesen Aufgaben viel Außendiensteinsatz verbunden ist, bleibe auch kaum noch Zeit, um Schuhe zu reparieren, so Martin Noisten. Die Paare stapelten sich zuletzt mehr und mehr.

Dankbare Stammkunden

Denn auch Noistens haben Stammkunden. „Gerade die, die Probleme mit den Füßen haben und auf die Reparatur ihrer Schuhe angewiesen sind, tun mir leid“, sagt Martin Noisten. Und die Dankbarkeit der Kunden für die Rettung der gut eingelaufenen Lieblingsschuhe sei immer auch Ansporn gewesen: „Beim Einbau eines Türschlosses hören sie eher selten, dass sie das gut gemacht haben“, sagt er und lacht.

Doch letztlich sei es auch sehr viel Arbeit, die kein Mensch sieht und „bei der finanziell nicht viel ‘rum kommt“, ergänzt Martina Noisten. Außerdem hätten sich die Zeiten und die Schuhmode geändert. Es gebe nur noch wenige Kunden, die Geld in hochwertige Schuhe investieren. Pfennigabsätze und Lederschuhe seien heute eher die Ausnahme.

Früher habe es mal vier klassische Schuhmacher in Werl gegeben, erinnert sich Heike Gülde. Und in den Hochzeiten, Anfang der 1980er-Jahre, hätten sie allein in der Werkstatt ihres Vaters zu viert Schuhe repariert.

„Auch Sneaker lassen sich reparieren“

Auch die Zahl der Mitglieder in der „Schuhmacher-Innung Hellweg-Lippe“ lasse sich inzwischen an einer Hand abzählen, weiß Innungsobermeister Arne Steinbrink aus Werne. Dabei umfasst der Innungsbezirk immerhin die Stadt Hamm und die Kreise Soest und Unna. Der schwere Stand des Handwerks ist für Steinbrink vor allem eine Folge der „Wegwerfgesellschaft“. Doch seit einigen Jahren spüre er eine gewisse Trendwende. Das Ressourcensparen und das Thema Nachhaltigkeit habe für viele an Bedeutung gewonnen. Die geschrumpfte Zunft der Schuhmacher, deren Einzugsgebiet entsprechend immer größer wird, habe durchaus „gut zu tun“. „Der Schuhmacher hat seine Daseinsberechtigung“, ist Steinbrink überzeugt. Auch noch im Jahr 2023. „Nicht nur Lederschuhe lassen sich reparieren, auch Sneaker.“

Um das lange Zeit nur noch wenig beachtete Traditionshandwerk auch in die Köpfe der jüngeren Generationen zu bekommen, arbeite die Innung gerade an einer neuen Werbekampagne.

„Wenn ich hier abschließe, ist Schluss“

Gülde würde sich sehr freuen, wenn sie einen Nachfolger für ihren Betrieb finden könnte. Doch sie gibt sich keinen Illusionen hin. „Wenn ich hier abschließe, ist Schluss.“ Und dann müsste sich wohl auch der Pumuckl wieder ein neues Zuhause suchen.

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