Werl – „Wir haben in der Nähe eines Militärflughafens gelebt und dieser wurde sofort von den Russen bombardiert“, erinnert sich die 37-Jährige. Die ständigen Sirenen und Bombardierungen des militärischen Geländes hätten bei den Kindern panische und traumatisierende Zustände ausgelöst. „Mein Vater Jori kam zu mir und meinte, dass ich mit den Kindern und meiner Mutter das Land verlassen sollte.“
Zu Beginn des Krieges kam sich Nataliia Snurnykova vor, wie in einem Traum oder Film: „Ich konnte das nicht glauben, dass das wirklich wahr ist und sowas in der heutigen Zeit geschieht.“
Am Anfang hoffte Nataliia Snurnykova, dass der Krieg schnell vorbei sein wird und sie sich mit ihrer Familie verstecken kann: „Zu Beginn dachte ich noch, dass es wichtig ist, zuhause zu sein. Ich habe unser Haus zu sehr geliebt, um es einfach so zu verlassen“.
Doch nach den Angriffen der Russen war für die 37-Jährige schnell klar, dass sie reagieren und flüchten muss. Mit einer „Pritsche“ voll mit Menschen dauerte die sonst 20-minütige Fahrt zum Bahnhof mehr als zwei Stunden. „Wir mussten viele Absperrungen umfahren.“ Nach rund 24 Stunden kamen sie in Lwiw im Westen der Ukraine an.
An der polnischen Grenze, wo Decken, Essen und Getränke von Ehrenamtlichen verteilt wurden, trafen sie auf einen Mann namens Raphael, der sie zur deutschen Grenze begleitete. Über Wuppertal und Viersen kamen die Snurnykovas schließlich nach Werl.
„Wir wurden nach unserem Glauben gefragt und in welche Gegend wir gerne wollen. Es sollte ländlich sein – mit Wald.“
Nataliias Mann Andriia sowie die Schwiegereltern Olena und Anatoli verließen die Ukraine im Mai und folgten in die Wallfahrtsstadt. „Ich habe eine Behinderung und fünf Kinder. Deswegen konnte ich raus“, erzählt der 45-Jährige.
Mit den Herzen ist die Familie in ihrer Heimatstadt Charkiw. Aber sie wissen, dass es keine schnelle Rückkehr geben wird. So sehr sie die Heimat und ihr Umfeld vermissen, ein sicheres Leben ist dort aktuell nicht möglich. Und ob es überhaupt zu einer Rückkehr kommen wird, weiß keiner in der Familie. Vor einem halben Jahr war die Hoffnung noch groß, dass der Krieg bald vorbei sein wird. Doch die Hoffnung schwindet immer mehr.
Nataliia Snurnykova will ihren fünf Kindern Bildung ermöglichen und diese Chance sieht sie im Augenblick nur in Deutschland. Die Kinder gehen in Werl zur Schule und fühlen sich hier wohl. Neben dem Unterricht an den hiesigen Schulen, gibt es am Nachmittag noch den ukrainischen Online-Unterricht.
Die Eltern Nataliia und Andriia sind Kunstlehrer und auch die Kinder sind künstlerisch tätig und malen in ihrer Freizeit. Für die 37-Jährige wäre es ein Traum, in Werl eine Malschule zu eröffnen. Um ihr Vorhaben zu ermöglichen, besucht sie einen Deutschkurs.
Die Kinder sind neben der Schule in Vereinen aktiv. Der achtjährige Mykhailo spielt bei Preußen TV Werl Fußball und geht wie Bruder Nika (11) zum Judo. Mykhailo spielt auch Geige und Piano und bekommt an der Musikschule wie seine Geschwister Unterricht. Mariia spielt Orgel. Organist Timo Ziesche hat das Talent entdeckt und fördert die 15-Jährige. Fast täglich telefonieren die Kinder mit Opa Jori, der beim Militär ist und deswegen das Land nicht verlassen darf.
Wo er sich aufhält, darf er der Familie nicht mitteilen. Nataliia und Andriia sorgen sich um die Familie, Freunde und Bekannte in der Ukraine. „Da werden Menschen und Familien zerstört und das ist alles so schrecklich“, sagt Nataliia. Ihr Haus in der Ukraine ist von der Zerstörung noch nicht betroffen. „Wir haben große Sorgen, dass unser Haus geplündert oder zerstört wird“, sagt Andriia. Bis zur russischen Grenze sind es nur rund 40 Kilometer.