Er könne sich bei der Verkündung des Urteils zwar kurz fassen, merkte Richter Kamp an, wolle es dabei aber nicht belassen. Vielmehr erläuterte er detailliert, wie die Kammer zum Urteil kam.
Der nachweisbare und eingestandene Steuerschaden sei letztlich „erheblich niedriger“ als die angeklagten drei Millionen Euro, die den Hauptangeklagten zugeschrieben worden waren. Bei einer Steuerprüfung des Großhandelsbetriebs, in dem ein Mann aus Werl und einer aus Werne verantwortlich waren, hätten damals Barbelege den Verdacht der Prüfer erregt, so der Richter. Datenbestände wurden sichergestellt, zudem Excel-Tabellen erstellt, um die einzelnen Kunden zuzuordnen. Eine „hochkomplexe und mühsame Aufarbeitung“ sei erfolgt, anhand der Daten nahmen die Ermittler eine Auswertung vor.
Der Haken: Die Annahmen hätten sich nicht nur auf die technische, sondern auch auf die menschliche Ebene bezogen und seien davon ausgegangen, dass Barbelege ausschließlich illegalen Zwecken gedient hätten. Dabei sei eine klare Grenzziehung schwer. Die Systematik der Fahnder sei nachvollziehbar, „und es ist gut möglich, dass die Auswertungssystematik belastbar ist“.
Aber auch nach sechs Monaten Verhandlung sei die Kammer von einer abschließenden Bewertbarkeit weit entfernt. „Denn es gibt einige Ungereimtheiten, die nicht zu erklären sind“, sagte Kamp. Bei den Überprüfungen habe es auch Mutmaßungen gegeben. Es bleibe die Frage: „Hätte ein Gutachten beweisen können, dass die Angeklagten dem Vorwurf entsprechend mehrere Million Euro hinterzogen haben?“ Die Antwort gab der Richter selbst: „Klares Nein!“ Die menschliche Ebene könne der Gutachter nicht bewerten, dies könnten allein diejenigen, die das Programm bedienten: die Geschäftsführer des Großhandels aus Werl und Werne. Die hätten dazu auch Aussagen gemacht, die sich allerdings mit den Annahmen der Steuerfahnder nicht vereinbaren ließen.
Dass jene Barbelege nur auf jeweils einen Kunden bezogen waren und ausschließlich illegalen Zwecken dienten, hätten die Großhändler eben nicht bestätigt. So habe es „erhebliche Abweichungen“ in den Aussagen gegeben. Der Richter erläuterte an Beispielen, dass die Annahme „ein Schein, ein Kunde“ nicht haltbar sei, sondern es auch Erklärungen gebe, die nicht strafbar seien. Wenn ein Schein nicht nachweisbar einem Kunden zuzuordnen ist, gebe es ein Problem – und letztlich habe die Strafkammer die Aussagen der Großhandelsbetreiber nicht widerlegen können. Im Strafrecht sei es aber nun mal üblich, dass nicht Angeklagte ihre Unschuld beweisen müssen, sondern im Gegenteil ihnen strafbares Handeln nachgewiesen werden muss.
Letztlich blieben an der Berechnungssystematik der Finanzbehörden viele Zweifel, bleibe „vieles offen“. Und es war nicht zu klären, in welchem Verhältnis die Barbelege illegal oder legal zustande kamen. Nach und nach habe sich der Vorwurf gegen alle fünf Beteiligten im Gastroprozess „relativiert“, sagte Kamp. Die Berechnungssystematik der Steuerfahndung und damit die Ausgangsthese der Anklage sei nicht haltbar gewesen.
Gegen den Werler und seinen ehemaligen Kompagnon aus Werne war das Verfahren wegen Beihilfe zum Betrug bereits vor kurzem gegen Zahlung einer Geldauflage von 8 000 Euro eingestellt worden.
Dass die Angeklagten geständig waren wenn auch in deutlich geringerem Ausmaß als angeklagt zwischen 2011 und 2016 Schwarzeinkäufe bei einem Soester Großhändler getätigt zu haben – betrieben von einem Werler und einem Mann aus Werne, das sei sicher strafmildernd zu werten, sagte Staatsanwalt Michels in seinem Plädoyer. Auch, dass beide Gastonomen, die in Dortmund ein Restaurant betrieben, bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sind und um Schadensausgleich bemüht gewesen seien. Aber sie hätten nachweislich Steuern hinterzogen, für 3400 Euro im Monat schwarz eingekauft. Der Steuerschaden belaufe sich auf 313 000 Euro – in der Anklage war von einem Betrag von drei Millionen Euro bei den Hauptangeklagten, bezogen auf alle fünf zunächst angeklagten Männer sogar von mehr als sieben Millionen Euro die Rede gewesen. Gleichwohl sei wegen der Vielzahl der Taten und die Dauer des strafbaren Handelns 15 Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung angemessen, forderte der Staatsanwalt.
Die Verteidigung betonte eine unnötige Länge des Verfahrens, die ihre Mandanten belastet habe. Dem Gericht sei zu danken, dass es „bereit gewesen ist, das, was geschehen ist, neutral aufzuklären“, sagte Verteidiger Kuhlmann. Und das sei eben nicht der von der Steuerfahndung errechnete Millionenbetrug. Zwar sei es richtig, „dass einige Dinge schief gelaufen sind“; aber dass die Annahmen der Ermittler nicht stimmen konnten, hätte man auch 2018 oder 2019 wissen können, kritisierte Kuhlmann. Damit die errechneten Umsätze der Fahnder passen, hätte das Restaurant 450 statt der 160 Plätze haben müssen. Anders gesagt: jeder Sitzplatz hätte täglich dreimal belegt werden müssen. Man habe es also mit Zahlen zu tun, „die nicht richtig sein konnten“. Der Verteidiger übte offene Kritik an der Finanzverwaltung, die zu Gesprächen nicht bereit gewesen sei: Das sei „unschön“. Die Taten des Mandanten seien nicht zu beschönigen, ein Steuerschaden entstanden – und ein Jahr auf Bewährung angemessen. Sein Kollege Grigoleit kritisierte ebenfalls das Konstrukt der Steuerfahndung. Fehler darin hätten sich früh erschließen können. „Aber die Steuerfahndung war nicht bereit, eigene Prämissen in Frage zu stellen anhand der Realität.“. Erst das Gericht habe nun die Berechnungen „auf reale Zahlen eingedampft“. Grigoleit brandmarkte „Versäumnisse im Ermittlungsverfahren“ , die das Verfahren auf über fünf Jahre gezogen hätten. Das habe auch zu unnötigen Kosten zum Beispiel für Gutachten geführt. Daher solle das Gericht diese den Angeklagten nicht auch noch auferlegen. Schließlich habe sich das Gericht durch Fehler der Finanzverwaltung der Realität „mühsam annähern müssen“. Die Kammer gab dem Ansinnen zumindest zum Teil statt: Eine Hälfte der Gutachterkosten trägt die Staatskasse, die andere die Angeklagten.