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Die Seele baumeln lassen in luftiger Höhe

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Von: Dirk Wilms

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Anzeiger-Redakteur Dirk Wilms begleitete Jürgen Coerdt auf einem seiner Rundflüge.
Anzeiger-Redakteur Dirk Wilms begleitete Jürgen Coerdt auf einem seiner Rundflüge. © Daniel Wilms

„Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen, und dann, würde was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein!“ Dieser Refrain des Liedes von Reinhard Mey aus dem Jahre 1974 spricht Jürgen Coerdt aus dem Herzen. Der Welveraner fühlt sich am wohlsten, wenn er in luftigen Höhen schwebt und die Welt aus der Vogelperspektive betrachten kann. Als Motorschirm-Pilot ist er fast täglich mit seinem Fluggerät unterwegs, wenn es die Arbeit und das Wetter erlauben.

Welver - „Wenn ich da oben bin, kann ich total entspannen und die Seele baumeln lassen“, ist Jürgen Coerdt keineswegs ein Adrenalin-Junkie, der mit seinem Motorschirm den besonderen Kick sucht. „Es ist einfach herrlich, von oben zu sehen, welch schönes, grünes Fleckchen Erde wir hier haben“, ist der 55-Jährige jedes Mal aufs Neue fasziniert, die Börde-Landschaft, den Möhnesee und den Arnsberger Wald von oben betrachten zu können.

Da wechseln sich gelbe Raps- und hellgrüne Kornfelder mit dunkelgrünen Wäldern ab. Rote Dächer bilden bunte Farbtupfer, Züge muten an wie eine Spielzeug-Eisenbahn, Autos wie kleine Matchbox-Modelle. „Wenn der Morgennebel sich wie eine Welle über den Haarstrang bewegt, von den Windkraftanlagen nur die Rotoren oben rausschauen, stelle ich jedes Mal aufs Neue fest, was für ein geiles Hobby wir haben“, so der Motorschirm-Flieger.

1996 ging er erstmals in die Luft, übte sich in den Bergen im klassischen Gleitschirmfliegen. Eine faszinierende Sache, die nur einen Haken hat: Die wirklich interessanten Berge sind in den Alpen, der Weg dahin ist weit von der Niederbörde aus. Also folgte Jürgen Coerdt 1999 der Empfehlung eines Kollegen, der sich einen Rucksack-Motor gekauft hatte.

Mit dieser Maschine nimmt man per pedes soviel Fahrt auf, dass sich der Schirm aufspannt, dann wird man von der Antriebskraft des Motors in die Lüfte befördert. Der gelernte Maschinenschlosser, der inzwischen sein Motorrad verkauft hatte, absolvierte im Jahr 2000 einen entsprechenden Lehrgang. In Oerlinghausen und Melle leistete er 60 Übungsstunden, ihm wurden Kenntnisse vermittelt in Luftrecht, Navigation, Funk und Technik. „Wir haben auch gelernt, wie man sich in Extremsituationen verhalten muss.“

Davon profitierte er, als der Rucksack-Motor seinen Dienst versagte. Einmal ist ihm das widerfahren. „Da muss man Ruhe bewahren. Denn eigentlich kann nichts passieren, da man ja den Schirm über sich hat. Dann muss man sich nur eine Wiese zum Landen suchen“, sieht er ein sehr geringes Risiko in seinem Sport. „Mit dem Motorrad bin ich dreimal in wirklich gefährliche Situationen geraten, mit dem Motorschirm noch in keine einzige“, rückt Coerdt die Risiken ins rechte Licht.

Wenn doch mal was passiert, möglicherweise sogar mit tödlichem Ausgang, hat es fast immer etwa mit menschlichem Versagen zu tun. „Kommt es zu einem Unfall, ist es zu 99 Prozent ein Pilotenfehler“, verweist Coerdt auf haarsträubende Ereignisse. „Man darf das Wetter nicht falsch einschätzen“, lautet eine Grundregel.

Mit dem Rucksack-Motor war Jürgen Coerdt drei Jahre unterwegs, ehe er das Laufen beim Start leid war und sich ein Flyke zulegte, einer Mischung aus Liege-Fahrrad und Trike. Damit ging es bequemer in die Höhe. „Ich konnte wie mit einem Fahrrad zum Startplatz nach Illingen fahren und nach dem Flug ebenso zurück“, erzählt er von den Zeiten, als er und seine Kollegen noch von einer Weide im Welveraner Ortsteil starteten.

2009 wechselten sie auf eine Weide in der zu Werl zählenden Bauernschaft Brünningsen. Ein Jahr später wurde auch ein Verein gegründet, der inzwischen als „Motorschirmfreunde Hellweg“ firmiert. „Wir sind rund 20 Leute aus einem Umkreis von 50 Kilometern“, so Coerdt, die sich als Gleichgesinnte um ihn geschart haben.

Sie alle achten akribisch darauf, nicht mit dem Naturschutz in Konflikt zu geraten. Über dem Startgelände sorgen sie für eine Höhe von mindestens 300 Metern, ehe sie in die Korridore in Richtung Möhnesee oder Welver einschwenken. Dabei wird Obacht gegeben, nicht die Vogelschutzgebiete zu tangieren. „Wir stimmen uns regelmäßig mit der NABU ab, um keine Vögel zu stören oder zu gefährden“, betont Coerdt.

Ebenso müssen die Motorschirmflieger den Vorgaben des Flugzeugverkehrs Rechnung tragen. „Wir sind hier in der Nähe der Einflugschneise des Flughafens Dortmund“, somit ist eine westliche Route von Brünningsen aus quasi tabu.

Jürgen Coerdt hat mit seiner Begeisterung für das Motorschirmfliegen inzwischen eine ganze Reihe von Mitmenschen angesteckt. Im Frühjahr legte er sich einen Doppelsitzer zu, machte eine entsprechende Fortbildung in Hodenhagen bei Hannover. Nun darf er Passagiere in die Luft befördern, deren Reaktionen nahezu euphorisch sind.

In seinem Gästebuch schwärmen seine Mitflieger. „Sich zu fühlen wie ein Vogel, diese Perspektive, seine Heimat, eventuell sein Haus aus einer Ansicht zu sehen, die unvergleichlich ist“, ist Andreas Sundermann voller Euphorie. Und Karin Consten schreibt: „Es ist unbeschreiblich, einfach toll. Man muss es selbst erfahren, um selber schwärmen zu können. Ich freue mich schon darauf, wenn ich wieder mitfliegen kann.“

Sascha Gerwin formuliert ausführlich: „Nach einem spektakulären Start ging es hoch in die Luft. 1, 2, 3 geschraubte Kurven, schon waren wir auf 350 Meter Höhe, ein unglaubliches Gefühl. Man fühlt sich wie ein Vogel. Die Welt bekommt ein ganz neues Gesicht von da oben, einfach nur wunderbar. Ich habe mich von der ersten bis zur letzten Sekunde pudelwohl gefühlt und würde es jedem, der überlegt, es einmal auszuprobieren, nur ans Herz legen, es macht einfach unfassbar viel Spaß. Mein persönliches Highlight waren die engen Kurven,, wenn es im Magen anfängt zu kribbeln und man das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht kriegt. An alle, die das vielleicht nicht brauchen, keine Sorge, das macht Jürgen nur auf Nachfrage.“

Jürgen Coerdt bestätigt: „Ich mache keine Sperenzchen“, schaltet er auf eine Art Achterbahnfahrt nur auf besonderen Wunsch um. Sonst könnte es passieren, dass Kotztüten zum Einsatz kommen müssen, wie es auch schon mal passiert ist. Vielmehr will der Pilot den Mitfliegern ihre Heimat zeigen: „Die meisten suchen erst einmal ihr Haus, einige haben es aber nicht auf Anhieb gefunden. Die Welt sieht von oben eben doch ganz anders aus.“

Besonders beeindruckend sind Flüge in ganz hohe Höhen, wenn es tatsächlich, wie in Reinhard Meys Lied, über die Wolken geht. Wie zum Beispiel bei Doris Rousseau. Sie war schon zum zweiten Mal in der Luft: „Ich hatte das Glück, erleben zu dürfen, 1450 Meter hochzufliegen, sprich, wir waren über den Wolken. Leute, fliegt mit, ihr verpasst echt was. Jetzt möchte ich das Ganze nochmal im Winter erleben.“

Viel höher hat sich Jürgen Coerdt noch nicht gewagt. „Maximal waren es mal 5000 Fuß, das sind rund 1700 Meter“, hat der Welveraner keine Ambitionen, sich mit Sauerstoff an Bord in Rekordgefilde von an die 7000 Meter zu wagen. Er hält es lieber mit den normalen Höhen um die 500 Meter und konnte auf diese Weise im Herbst auch erstmals seine Mama an seinem Hobby teilhaben lassen.

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