Wisam Al Refai zog die Konsequenzen, packte im heimischen Daara seine sieben Sachen und floh Hals über Kopf mit seiner Mutter per Flugzeug nach Dubai. „Die haben plötzlich angefangen zu schießen“, erinnert er sich mit Schrecken an jenen Tag im April 2013, an dem sich die Lage in der Stadt nahe der jordanischen Grenze zuspitzte. Dort war der Unmut über das Assad-Regime ganz besonders groß, dort protestierte auch Wisam Al Refai.
Als jüngster Sohn einer Großfamilie mit elf Kindern, die ohne den schon verstorbenen Vater auskommen musste, eiferte er zwei seiner Brüder nach, die schon in den Golfstaat ausgewandert waren. Es blieb nicht der einzige Weg, den der studierte Englisch-Lehrer in den nächsten Jahren auf der Suche nach einem Leben in Frieden und Freiheit auf sich nahm. Letztlich führte ihn die Odyssee nach Welver, wo der jetzt 36-Jährige mit seiner Familie Zuflucht gefunden hat.
Wisam und Waad Al Refai leben mit ihren Kindern Mayar, Elin und Adam in einer Wohnung in Meyerich bei Marlies Schildheuer. „Mir wurde gesagt, ich wäre verrückt, das würde nicht gut gehen“, musste die heute 76-Jährige viele Unkenrufe über sich ergehen lassen. Doch sie hat keine Sekunde bereut, beteuert die Welveranerin – im Gegenteil. Sie ist heilfroh, dass sie drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes Ulrich wieder Leben in ihrem Haus am Frankenkamp hat.
Der Weg von Wisam Al Refai in die Niederbörde war wahrlich nicht vorgezeichnet. In Dubai gab es keine Perspektive für ihn und seine Braut Waad, die ebenfalls aus Daara stammt. „Sie durfte nicht dort einreisen“, erklärt Al Refai. So machte er ich auf den Weg in die Türkei, wo er mit Waad zusammentreffen und sie heiraten konnte.
Die Türkei aber entpuppte sich nicht als gutes Pflaster für syrische Flüchtlinge, um eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Also schlugen sie den Weg ein, den andere Menschen aus dem arabischen Land auch zu nehmen versuchten: den Weg nach Europa.
Der erste Versuch, mit einem Schiff auf die griechische Insel Lesbos zu gelangen, scheiterte an der fehlenden Seetauglichkeit des überfüllten Bootes. „Wir wurden von einem türkischen Schiff aufgegriffen und zurückgebracht“, so Al Refai. Der zweite Versuch scheiterte schon im Ansatz, das Boot war leck.
Im dritten Anlauf aber ging es ein paar Tage später auf die griechische Insel, zu Fuß ins Flüchtlingslager Mytilini. Der weitere Weg führte per Schiff und Bahn über Athen, Mazedonien und Serbien nach Ungarn, wo erst einmal in einem Gefängnis Endstation war. Nach ein paar Tagen ging es per Bus weiter nach Österreich. „Da haben wir nette Menschen getroffen, die uns erst einmal mit frischer Kleidung ausgestattet haben“, erzählt Al Refai, der wie alle syrischen Flüchtlinge in seinem Tross seit Wochen dieselben Klamotten am Leib hatte. „Wir haben ja lange nur auf der Straße geschlafen“, haben sie viele Entbehrungen in Kauf genommen, um nach Deutschland zu gelangen.
Per Zug ging es von Österreich nach Berlin, von dort wurden sie nach Wesel verfrachtet. „Da sind wir am 15. September 2015 angekommen. Nach vier Wochen im Rheinland wurden Wisam und seine Frau nach Welver beordert, hatten einen Raum in der ehemaligen Hauptschule zu beziehen, die in Windeseile von der Gemeinde in eine Flüchtlingsunterkunft verwandelt worden war. „Hier haben uns ganz viele Leute geholfen“, ist Wisam Al Refai noch heute dankbar für die vielfältige Unterstützung.
Sieben Monate logierte das Paar hier, sie inzwischen schwanger, ehe sie Unterschlupf fanden in zwei Zimmern einer Wohnung im Frankenkamp, die die Gemeinde angemietet hatte. Und jetzt kam Marlies Schildheuer ins Spiel. „Ich bin beim Spazierengehen vorbeigekommen und habe Hallo gesagt. Da tat mir der Junge so leid, weil einfach kein Platz zum Krabbeln da war. Da habe ich mich gefragt, warum ich allein in meinem großen Haus leben soll“, berichtet die Witwe. Schließlich stand die Wohnung oben leer.
Gesagt, getan – am 15. Juli 2017 zog Familie Al Refai bei Marlies Schildheuer ein. „Wir waren total zufrieden, hatten endlich eine eigene Wohnung“, erinnert sich Wisam Al Refai mit einem strahlenden Lächeln an den Einzug. „Du bist meine deutsche Mama“, wuchs eine innige Freundschaft.
Dabei war die Gastgeberin sogar als Lehrerin aktiv. „Anfangs haben wir etwas englisch gesprochen, dann habe ich deutsch von Marlies gelernt“, ist Wisam Al Refai heilfroh, neben dem Deutsch-Kursus beim Kolping in Soest ganz praktisch in die Sprache seines neuen Landes eingeführt zu werden. „In der Kürze liegt die Würze“, das war einer der ersten Sätze, die sie ihrem Schützling beibrachte.
Wisam Al Refais Hoffnung, selber als Englisch-Lehrer aktiv werden zu können, zerschlug sich rasch. „Ich hätte nach Bielefeld zum Studium fahren müssen“, war der Weg aus familiären Gründen versperrt. Also entschied er sich zu einem Berufswechsel, begann im März 2019 mit einem Job bei der Firma Stahl am Schloitweg in Soest. Daraus entstand ein Ausbildungsvertrag, um Elektro- und Gebäudetechnik zu lernen. Anfang 2024 soll nach Corona-bedingter Verzögerung die Gesellenprüfung folgen.
Nach Feierabend spielte Wisam Al Refai gern Fußball. Beim SV Welver musste er nach zwei Jahren aber die Stiefel an den Nagel hängen, da Beruf und Familie ihn komplett vereinnahmten. Schließlich kamen die Zwillinge Elin und Adam vor vier Jahren zu Welt. Und Adam entwickelte mit anderthalb Jahren eine Erkrankung, sodass er ganz besonderer Zuwendung bedarf, die er auch im Integrativen Kindergarten in Hultrop erfährt.
Ihre Enkelkinder würde Wisam Al Refais Mutter zu gern kennenlernen. Doch ein Besuch in Dubai würde das Portemonnaie der Familie überstrapazieren; und seine Mutter kann aus gesundheitlichen Gründen nicht fliegen. Also muss der Kontakt momentan auf Skype beschränkt bleiben; wie auch zur Schwester daheim in Daara. Sie ist zurückgeblieben. „Da gibt es keinen Strom und kein Wasser im Haus“, schildert Wisam Al Refai die erbärmlichen Zustände. Der Schwester gehe es nicht gut.
Umso glücklicher ist der gebürtige Syrer, dass er eine neue Heimat gefunden hat, denn die Zukunft der Familie in Deutschland ist gesichert: „Wir haben seit acht Monaten deutsche Pässe.“ Die Integration ist weit fortgeschritten. Beide Kinder wachsen zweisprachig auf. Der sechsjährige Mayar ist soeben in Welver eingeschult worden, Elin geht zu den Salzbachstrolchen nach Scheidingen. Von Fremdenfeindlichkeit keine Spur in der Niederbörde.