„Stille Nacht“ bei 30 Grad

Der Schnee knarzt unter den Winterstiefeln, die Mütze ist tief in die Stirn gezogen, Handschuhe wärmen die Finger. Die Weihnachtszeit ist geprägt vom Winter; jedenfalls war das einst der Fall, die Älteren erinnern sich. Und doch – die Bilder von weißen Landschaften werden mit dem Fest in Verbindung gebracht, bei dem die Christen die Geburt von Jesus Christus feiern. Kaum vorstellbar, sich im Sommerlook um die Krippe zu versammeln und Lieder wie „Stille Nacht“ oder „O, Du Fröhliche“ anzustimmen.
Welver - Für George Dasan ist dies aber ganz und gar nicht ungewöhnlich. Denn der Pater, der derzeit das Pfarrhaus der katholischen Kirchengemeinde St. Maria in Kirchwelver bewohnt und zum Pastoralteam um Propst Michael Feldmann zählt, stammt aus Indien, wo zu dieser Zeit alles andere als frostige Temperaturen herrschen. „30 Grad sind auch an Weihnachten normal“, erklärt der 40-Jährige das Klima seiner Heimat an der Südspitze des Subkontinents.
In Pulluvila ist der dem Karmeliter-Orden angehörende Pater zu Hause; ein Dorf an der Küste des Indischen Ozeans im Distrikt Thiruvananthapuram im Bundesstaat Kerala. Hier im Süden Indiens herrschen auch im Winter tropische Temperaturen. Kein Wunder, dass Weihnachten also nicht der dicke und zumeist dunkle Wintermantel angesagt ist, auf dem Weg in die Kirche wie hierzulande.
Vielmehr ist farbenfrohe Kleidung angesagt, möglichst leicht und luftig, wenn Weihnachten gefeiert wird. Zu Hunderten, gar Tausenden strömen die Männer und Frauen, Mädchen und Jungen durch die Straßen des Ortes rund um die St. Jacob-Kirche. Zu Klängen karnatischer Musik feiern sie Christmas Carol. Priester in weißem Gewand führen die prozessionsartige Veranstaltung an, bei dem Engel und Santa Claus Seite an Seite laufen.
Rund 10 000 Gläubige zählt die christliche Gemeinde in Pulluvila. Im 16. Jahrhundert brachte der spanische Missionar Franz Xaver das Christentum in diese Gegend Indiens. Derzeit stellen die Christen in Pulluvila mehr als drei Viertel der Bevölkerung. Schon als Kind erlebte George Dasan mit seinen zwei Brüdern und seinen zwei Schwestern in der christlichen Familie, wie Weihnachten gefeiert wird.
Am späten Abend des 24. Dezember geht es in die Mitternachtsmesse. „Da wird auch das Gloria wieder gesungen, das im Advent verstummt war“, erzählt der Pater von Traditionen, die aus der westlichen Welt übernommen worden sind. Die Lieder werden natürlich in der Sprache der Gegend gesungen, auf Malayalam. Nach der Messe kehren die Menschen heim, die Familie findet sich zu einem Festessen zusammen.
Damit endet die Fastenzeit. „Im Advent wird kein Fleisch und kein Fisch gegessen“, erklärt George Dasan den Brauch aus seiner Heimat. In eine Völlerei artet das nächtliche Mahl aber keineswegs aus. „Es gibt Reis, Gemüse und Fleisch.“ Und Alkohol spielt nur eine Nebenrolle; wenn er überhaupt auf den Tisch kommt. Die Geschenke fallen nicht so übermäßig aus, wie hierzulande vielerorts üblich. Vielmehr steht das Zusammensein in der Familie im Vordergrund. In Indien ist es die Regel, dass mehrere Generationen unter einem Dach leben.
Am 1. Weihnachtstag schließen sich weitere Messen an. „Es können ja nicht alle Menschen gleichzeitig in die Kirche kommen“, und so wird allen Gläubigen die Möglichkeit geboten, in der St. Jakob-Kirche einem weihnachtlichen Gottesdienst mit Tannenbaum und Krippenspiel beizuwohnen. Der gotische Bau aus dem Jahre 1750 ist jedes Mal bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein Exodus, wie ihn die katholische Kirche in Deutschland erfährt, bleibt ihr in Indien erspart.
Einen zweiten Weihnachts-Feiertag kennen die Christen in Indien nicht. Auch den Nikolaustag feiern die Christen im inzwischen bevölkerungsreichsten Land der Erde nicht wie in Deutschland. Santa Claus kommt eben erst mit den Engeln zu Weihnachten. Den Tag der Heiligen Drei Könige, in weiten Teilen der katholischen Welt ein Feiertag am 6. Januar, feiern die Christen in Indien erst am Sonntag danach.
George Dasan wird sich im Januar auch wieder auf Heimaturlaub begeben. Zuvor aber darf er erstmals Weihnachten im Schatten von St. Bernhard feiern. Seit Juli dieses Jahres gehört er als einer von knapp 30 indischen Geistlichen im Erzbistum Paderborn zum von Werl aus organisierten Pastoralteam, nachdem er schon im ersten Halbjahr 2015 für sechs Monate im Rahmen eines Praktikums Welver kennengelernt hatte.
„Ich wurde schon in meiner Schulzeit im Internat motiviert, Priester zu werden“, hatte sich George Dasan schon früh für diesen Lebensweg entschieden, der ihn 2014 erstmals nach Westfalen führte. Nach einem Sprachkurs in Münster und der Zeit in Welver ging es weiter nach Minden und danach für rund fünf Jahre nach Gütersloh. Im April 2021 kehrte er ein ins Kloster Eichlberg in der Oberpfalz als Mitglied des Karmeliterordens, ehe ihn im vergangenen Sommer der Ruf von St. Maria ereilte.
Voraussichtlich bis 2026 wird er hier wirken, also auch das Osterfest im Schatten von St. Bernhard und St. Peter und Paul erleben. Langfristig aber wird ihn der Weg wieder nach Hause führen, wo er zu Weihnachten keinen dicken Wintermantel braucht.