1. Soester Anzeiger
  2. Lokales
  3. Welver

„Wenn der Wolf kommt, höre ich auf“

Erstellt:

Von: Dirk Wilms

Kommentare

Alfred Kegel hat den Umgang mit den Schafen seit seinem 15. Lebensjahr von der Pike auf gelernt, sowohl auf dem väterlichen Hof als auch im Paderborner Land.
Alfred Kegel hat den Umgang mit den Schafen seit seinem 15. Lebensjahr von der Pike auf gelernt, sowohl auf dem väterlichen Hof als auch im Paderborner Land. © Wilms

Die Wege zu seinen Tieren werden für Alfred Kegel immer beschwerlicher. Die Kniegelenke sind längst ein Fall für den Arzt. Doch der Schäfer aus Dorfwelver kann und will noch nicht lassen von seinen Tieren, die sein Leben geprägt haben. Von Kindesbeinen an gehörten die Schafe zu ihm und seiner Familie, die schon Mitte des 19. Jahrhunderts sich dem Wiederkäuer mit dem wollenen Pelz widmeten.

Dorfwelver – Die Tradition führt Alfred Kegel allerdings in wahrscheinlich letzter Generation fort. Seine drei Kinder haben kein Interesse, den Betrieb fortzuführen, der schon lange nichts mehr zu tun mit einstiger Schäfer-Idylle, die ihn Märchen und Überlieferungen so romantisiert wird. Es ist ein Geschäft, und ein hartes dazu. Mit seinen fast 70 Jahren ist für Alfred Kegel daher absehbar, dass er sich die längste Zeit im Stall und auf der Weide um seine Tiere gekümmert hat.

„Ich habe mein Auskommen“, will der Schäfer nicht klagen, zumal er als lizenzierter Schlachter für Rinder und Schafe in der Direktvermarktung seinen Verdienst hat. Vor allem Kunden aus islamischen Kulturkreisen kommen zu ihm, neuerdings auch viele Jesiden; jenem christlichen Volk, das während der Herrschaft des IS im Irak verfolgt und vertrieben worden ist. „Das Fleisch muss gar nicht in die Kühlung, sie kaufen es quasi noch warm“, ist Kegel froh über diese Absatzmöglichkeit.

Dabei hält er sich penibel an die Vorschriften; seine Schlachterei ist digitalisiert. Genau wird alles aufgezeichnet. Ohnehin ist der Schäfer zudem mit ähnlich viel Bürokratie befasst wie seine Kollegen in der Landwirtschaft. Da geht nichts mehr mit Förderung und Abgaben ohne den obligatorischen Behördengang.

Dabei liegt dem Urgestein aus Dorfwelver viel mehr die Arbeit zum Wohl seiner Schützlinge am Herzen. Gerade am Wochenende vor Ostern durften die ersten Schafe und ihre mehrere Wochen alten Lämmer auf eine Weide hinterm Rübenkamp. Bis dahin hatten sie ihren Platz im Stall Richtung Kettlerholz, wie Kegel seine Tiere wintertags betreut. Rund 100 Mutterschafe sind es noch; vor einigen Jahren war es noch ein Vielfaches.

Rund 100 Mutterschafe und ihre Lämmer sowie eine Handvoll Böcke tummeln sich auf den Weiden rund um Dorfwelver und im Stall von Alfred Kegel.
Rund 100 Mutterschafe und ihre Lämmer sowie eine Handvoll Böcke tummeln sich auf den Weiden rund um Dorfwelver und im Stall von Alfred Kegel. © Wilms, Dirk

Doch da schlug die Blauzungenkrankheit zu. Rund 250 Tiere sind dieser eingeschleppten Seuche zum Opfer gefallen. Erst im Jahr darauf gab es probate Impfmittel. Apropos Impfen: Das ist für den Schäfer aus Dorfwelver alltägliche Arbeit. „Wir müssen gegen Tetanus impfen und gegen die Breinieren-Krankheit. Dazu gibt es noch eine Mehrzweck-Impfe“, lässt er seinen Schafen einen weitgehenden Rundumschutz angedeihen.

Keinen Schutz könnte er hingegen bieten, wenn eine Bedrohung ganz anderer Art sich auch in der Niederbörde breit machen würde. „Wenn der Wolf kommt, höre ich auf“, hat Alfred Kegel keine Lust, sich damit auseinanderzusetzen. Er hat von Kollegen aus anderen Gegenden Bilder gesehen, wie reihenweise Schafe dem Isegrim zum Opfer gefallen sind. Der Schäfer aus Dorfwelver hat kein Verständnis, dass dem nicht Einhalt geboten wird. „In Schweden geht das doch auch.“

Noch aber ist der Wolf in seinem Umkreis nicht gesichtet worden. Kegel kann sich darauf konzentrieren, seine Muttertiere beim Lammen zu unterstützen. „Dabei hilft auch meine Frau Gabriele“, ist der Schäfer froh über diese Art von Teamwork. Regelmäßig müssen die Tiere einer Wurmkur unterzogen werden, auch die Pflege der Klauen darf nicht zu kurz kommen.

Schließlich steht Anfang Juni die Schur auf dem Programm. Denn im Sommer darf es den Tieren nicht zu warm werden, die Wolle muss runter. Dabei ist das für Alfred Kegel zum reinen Kostenfaktor geworden. „Früher war das ein kleines Zubrot. Doch gibt es längst keinen Markt mehr für die Wolle“, hat Kegel kein Verständnis dafür, dass dieses Naturprodukt keine Rolle mehr spielt. Dabei wäre es ein wichtiger Faktor in Sachen Nachhaltigkeit, die so sehr gepredigt wird. Doch Kunstfasern und Kleidung aus fernen Ländern haben der heimischen Wolle längst den Rang abgelaufen.

Immenser Rückgang

Gut 1,5 Millionen Schafe wurden einer Erhebung des Bundeslandwirtschaftsministeriums Ende 2022 in Deutschland gezählt. Das ist ein immenser Rückgang, waren es zur Jahrtausendwende noch rund 2,7 Millionen, 2020 noch 1,8 Millionen. In Nordrhein-Westfalen wurden jüngst knapp 150 000 Schafe und Lämmer gezählt. Vor einem Jahr gab es deutschlandweit noch 950 Schäfer im Vollerwerb. Sie produzierten rund 4000 Tonnen Schaffleisch.

Die Wolle hat hingegen nur noch eine kleine Bedeutung. In Modegeschäften oder Wollläden ist kaum noch deutsche Wolle zu finden. Sie ist meist zu grob und kann mit der feinen, weißen Wolle aus Neuseeland oder Australien preislich und qualitativ nicht mithalten. China ist der größte Wollveredler der Welt und verarbeitet grobe Wolle zu Teppichen, Industriefilz, Wollpellets oder Dämmmaterial weiter.

Daher erzielen deutsche Schafhalter nur noch knapp zwei Prozent ihres Einkommens mit dem Wollverkauf.

Bleibt also nur das Fleisch der Schafe und Lämmer als Grundlage für das Geschäft, das in Dorfwelver aussterben wird, wenn Alfred Kegel eines Tages nicht mehr kann. Vielleicht betreibt ein Enkel die Schäferei noch hobbymäßig, hat Kegel die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Der Zwölfjährige ist den Tieren jedenfalls schon zugeneigt, hat ein zahmes und treuherziges Schaf auf den Namen „Frieda“ getauft.

Ein besonders zutrauliches Exemplar, das auch die Schnürsenkel des Reporters auf ihren Geschmack testete und ganz gewiss sein Gnadenbrot bei Kegel bekommen soll. Schließlich werden außergewöhnliche Tiere nicht vermarktet. Erst vergangenes Jahr starb ein Schaf im seligen Alter von 22 Jahren, hatte ebenso sein Gnadenbrot erhalten wie einige seiner Artgenossen, die längst zum lebenden Inventar auf dem Hof geworden sind, auch wenn mit ihnen schon lange kein Geld mehr zu verdienen ist.

Ein kleines Stück Romantik ist also doch noch verblieben bei Kegels in Dorfwelver...

Auch interessant

Kommentare