„Kamen kam nicht in Frage, da fahren 300 Züge täglich vorbei. Und Rhynern war zu groß“, erzählt er. „Doch als wir die Einfahrt zum Bahnhofsvorplatz in Borgeln runtergefahren sind, wusste ich sofort: Das ist es!“. 1984 entschloss sich Kimmel-Groß mit seiner damaligen Frau zum Kauf, wenngleich damit eine Menge Arbeit verbunden war. „Das Gebäude hatte acht Jahre leer gestanden, die Fenster waren eingeworfen und durch Holzplatten ersetzt worden.“
Es folgten anstrengende Zeiten. „Ich bin täglich nach der Schule von Heessen nach Borgeln gefahren, habe 150 Scheiben eingesetzt, sämtliche Leitungen wurden ersetzt, ob Wasser oder Elektro.“ Im heutigen Atelier stapelten sich 96 Umzugskartons, aus denen die Borgelner Neubürger zunächst lebten. Denn beim Einzug Anfang Januar 1985 waren nur Bad, Küche und Schlafzimmer fertig.
Johannes Kimmel-Groß hatte damit einen von mehreren mutigen Schritten in seinem bis dahin schon außerordentlich abwechslungsreichen Leben vollzogen. Am 25. Dezember 1946 in Castrop-Rauxel geboren wuchs er im Schatten der Zeche Erin mitten im Pütt auf. „Wenn Koks gelöscht wurde, mussten wir in der Schule mitten am Tag das Licht anmachen“, erinnert er sich an seine Zeit an der Volksschule. Wäsche wurde nur draußen aufgehängt, wenn Südwind war, sonst hätte der Staub die Wäsche wieder verschmutzt.
Als Sohn eines tief gläubigen Amtsarztes waren Dienste als Messdiener an der Tagesordnung. Johannes Kimmel-Groß war verwurzelt in der katholischen Gemeinde und ein belesener Schüler. „Ich habe die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium geschafft“, durfte er die Höhere Schule besuchen, wenngleich er mit so manch einem Lehrer angeeckt war, der seine braune Gesinnung nicht ablegen konnte.
Leider wurde die schulische Laufbahn jäh unterbrochen. „Bei einem Wolkenbruch war ich mit dem Fahrrad unterwegs und wurde von einem Auto angefahren“, erlitt er 1959 viele Knochenbrüche und eine Schädel-Fraktur. „Damit war meine Schulkarriere zerbröselt“, verweist Kimmel-Groß auf ein halbes Jahr Krankenhaus und ein wiederholtes Schuljahr.
Also entschied sich der Heranwachsende, die Schule zu verlassen und eine Lehre als Orgelbauer in Dorsten anzutreten, war er doch schon als Jugendlicher den Tasteninstrumenten ähnlich zugetan wie dem Malerpinsel und Zeichenstift. Den Segen vom strengen Vater gab es, dreieinhalb Jahre später war die Gesellenprüfung bestanden. Als Gesellenstücke fabrizierte der junge Orgelbauer ein Register mit 4-Fuß-Gedackt-Pfeifen und eine Schleiflade für eine Kirche in Gladbeck.
Nach der Lehre blieb Kimmel-Groß dem Orgelbau treu, und zwar in Diensten der Franziskaner, deren Wirken ihn schon zu seiner Jugendzeit beeindruckt hatte. In deren Klöstern stimmte und wartete er die Orgeln, begann nebenbei in Neuss damit, an einem Abendgymnasium das Abitur nachzumachen.
Das Leben im Kloster wurde aber durch Übergriffe seitens der Leitung mehr und mehr zu einer Leidenszeit, sodass sich Kimmel-Groß dazu entschloss, das Haus zu verlassen. Das Abitur durfte er Anfang der 70er-Jahre dank eines liberalen Schulleiters aber gleichwohl machen. Und der gab ihm gleich einen prägenden Rat mit auf den Weg: „Trete aus der Kirche aus, damit Du nicht kaputt gehst!“ Das Lesen vielfältiger Literatur zu dem Thema verstärkte seine Zweifel an der Kirche.
Dass dies seine Verbindung zum Elternhaus nachhaltig beeinträchtigen würde, musste der angehende Abiturient in Kauf nehmen. „Mein Vater bebte vor Zorn, als ich vom Amtsgericht zurückkam“, war der Senior sogleich von dem Beamten informiert worden vom alles andere als genehmen Handeln seines Sohnes. „Wir haben uns danach lange nicht gesehen.“
Kimmel-Groß studierte anschließend in Dortmund Kunst und auf Lehramt für die Primarstufe. Dank guter Dozenten und Professoren klappte es wie am Schnürchen. Nach dem Staatsexamen kam er erstmals als Lehramtsanwärter in Büren mit Soest in Kontakt, wo seine spätere Frau an der Wiese-Schule lehrte. Er selbst kam nach einem Intermezzo an der Freiligrath-Schule in Bockum-Hövel, wo ihm der Schulleiter wegen seiner langen Haare nicht wohlgesonnen war, nach Heessen: „An der Gutenbergschule hatte ich eine tolle Zeit, arbeitete auch in einem Projekt für ausländische Kinder.“
Gleichwohl bewarb er sich nach Soest, zumal er seinen Lebensmittelpunkt in die Börde verlegt hatte. 1993 wurde sein Ruf erhört, Kimmel-Groß kam zur Wiese-Schule. Sechs Jahre später ging er für drei Jahre an das Landesinstitut als wissenschaftlich-pädagogischer Mitarbeiter, ehe er in den letzten acht Jahren seines Berufslebens die Lippstädter Josef-Grundschule leitete.
Seither hat Kimmel-Groß sein künstlerisches Wirken intensiviert, richtete im Bahnhof in Borgeln ein Atelier ein und veranstaltete 1989 dort erstmals eine Ausstellung. Hatte er sich jahrzehntelang vor allem der Grafik verschrieben, fing er als Pensionär mit dem Malen an. Die ersten Versuche waren noch von bescheidener Qualität. „Ich hatte Bildhauer Bernd Mönikes darum gebeten, meine Arbeiten zu begutachten. Er solle auch dabei kein Blatt vor dem Mund nehmen. Das tat auch nicht und sagte: ‚Ich sehe nichts!‘ Daran hatte ich erst einmal 14 Tage zu schlucken.“
Besuche in verschiedenen Museen führten ihn aber auf den Pfad der künstlerischen Tugend. Nach und nach näherte sich Kimmel-Groß dem naturalistischen Stil, bei dem er Grafik und Aquarell miteinander verband und heute noch verbindet. Auch der informellen Malerei hat er sich verschrieben.
Mit befreundeten Künstlern – er gehörte schon in den 80ern zum Hammer Kunstverein – gestaltete er vor drei Jahren erstmals den Kultursalon im Bahnhof in Borgeln, wo er Literatur mit Musik und Malerei zu verbinden verstand. Vier Veranstaltungen gab es in den ersten Jahren, ehe Corona die Aktivitäten jäh unterbrach. „Ich bin aber zuversichtlich, dass wir im April 2022 wieder starten können, auch für Juni habe ich schon geplant“, ist der 75-Jährige voller Tatendrang.
Ein Tatendrang, den er auch an den Tag legte als Vorsitzender des Trägervereins des Kulturzentrums „Alter Schlachthof“ in Soest. „Das gab damals eine Zerreißprobe im Verein“, erinnert Kimmel-Groß an viele heftige Diskussionen im Vorfeld der Eröffnung des Kulturzentrums 1993. „Es ist zu einer Erfolgsgeschichte geworden“, blickt Kimmel-Groß durchaus mit einer Portion Stolz auf das gegen einige Widerstände durchgesetzte Projekt zurück.
Zudem engagierte er sich politisch, stieß schon 1985 zu den Grünen, nachdem er in Soest diskussionsfreudige Menschen kennengelernt hatte. „Das war eine spannende Zeit, die Grünen eine ganz bunte Truppe.“ Die Zustimmung zum Kosovo-Krieg durch die rot-grüne Regierung aber sorgte im Jahre 1999 für seinen Austritt, ehe er sich 2009 überreden ließ, bei der erstmaligen Kandidatur der Grünen für den Gemeinderat in Welver wieder mitzumischen. Seiner Lebensgefährtin Cornelia Plaßmann wird ein nicht geringer Anteil an diesem Comeback zugeschrieben.
Heute betrachtet er die Politik eher aus der Distanz, wenngleich am Küchentisch stets gerade über das Geschehen in Welver, aber auch über den Eintritt der Grünen in die Ampel-Koalition in Berlin fleißig diskutiert wird.
Das geht freilich nur, wenn Johannes Kimmel-Groß sich nicht gerade in seinem zweiten Zuhause in Ditzum an der Ems aufhält, wo er sich Wohnung und Atelier eingerichtet hat. Erstes Zuhause aber ist und bleibt der Bahnhof in Borgeln. Daran ändern auch Unannehmlichkeiten nichts, die insbesondere in den ersten Jahren mit dem Wohnen in einem Bahnhof verbunden waren. „Da wurde schon mal nach Fahrkarten gefragt, wenn der Automat nicht funktionierte. Oder nach Bier und Zigaretten.“
Johannes Kimmel-Groß ist aber nie auf die Idee gekommen, einen Kiosk zu eröffnen. Stattdessen hat er sich als Chauffeur betätigt. „Da ist eine Dame bei uns ausgestiegen, dachte, sie sei schon in Bad Sassendorf. Es war aber der letzte Zug kurz vor Mitternacht. Da habe ich sie nach Sassendorf gefahren.“