Als Gertrud Heinrich kam sie auf die Welt, zweites von insgesamt fünf Kindern einer evangelischen Familie in der damals zum Deutschen Kaiserreich gehörenden Provinz Posen. Im Dorf Lewitz Hauland hatten die Eltern einen Hof. „Das Dorf zog sich acht Kilometer lang entlang einer Straße“, erinnert sich die Seniorin an ihre Kindheit. Die bestand aus viel Arbeit. Denn auch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen blieb ihre Familie auf ihrem Hof, auch wenn das Dorf seit 1920 zu Polen gehörte.
„Von klein auf musste ich mithelfen“, so die jetzt 105-Jährige. Da ging es raus in die Kartoffeln, es wurde das Korn gedroschen, aus der Wolle der Schafe Garn gesponnen. Auch die Kühe mussten gehütet, der Mutter im Haushalt geholfen werden. Gertrud Heinrich hatte als Mädchen viel Arbeit mit ihren Händen zu erledigen, Maschinen gab es in den 20er- und 30er-Jahren noch nicht.
Mit 23 Jahren heiratete sie Oskar Böhm aus einem Nachbardorf, in den Kriegsjahren wurden Sohn und Tochter geboren. Ihren Mann, der als Soldat im 2. Weltkrieg war und in amerikanische Gefangenschaft geraten war, sah sie jahrelang nicht wieder. Denn im Sommer 1945 mussten alle Deutschen die Heimat verlassen.
„Wir wurden auf Leiterwagen verfrachtet, die von Pferden gezogen wurden. Die jüngeren Leute mussten laufen“, schildert sie die dramatischen Ereignisse der Vertreibung. Sie hatte schon zwei kleine Kinder, die kaum laufen konnten, durfte nur mitnehmen, was getragen werden konnte. Bis zur Oder wurden sie verfrachtet. „Von da an mussten wir zusehen, wie wir weiterkamen.“
Die Idee war, nach Berlin zu kommen, wohin zwei Brüder ihres Mannes schon vorher gegangen waren. Doch die zerbombte Hauptstadt war dicht gemacht worden. „Da wurden wir zu einem großen Gut geschickt, wo Erntehelfer gesucht wurden.“ Also machten sich Gertrud Böhm und ihre Eltern mit den Kindern auf den Weg, natürlich zu Fuß, so wie sie es auch schon von der Oder aus geschafft hatten.
In der Tat fanden sie auf dem Gutsbetrieb Arbeit, das Getreide musste eingefahren und gedroschen werden. Darin waren die Flüchtlinge firm, kannten die Arbeit aus der verlassenen Heimat. Nur ihren Mann, den fand sie zunächst nicht wieder. „Als er aus der Gefangenschaft kam, wusste er nicht, wo wir sind. Und wir wussten nicht, wo er war“, lässt Gertrud Böhm ein Dreivierteljahrhundert danach durchblicken, welche Wirren die Nachkriegszeit mit sich brachte.
Nach vier Jahren aber fanden sie bei einem Bauern in der Gegend von Oranienburg wieder zusammen, machten sich auf den Weg in den Westen. „Wir kamen zu Bauer Schulze in Berwicke“, blieb die Familie der Landwirtschaft treu, während ihr Mann Oskar eine Arbeit in der Stahlindustrie in Dortmund fand.
Als die Gastgeber in Berwicke die Wohnräume selber brauchten, suchten Gertrud Böhm und ihr Mann ein neues Zuhause und fanden es 1965 in Welver an der Birkenstraße. Hier wohnten in einem zum Teil nur als Rohbau existierenden Gebäude zeitweise vier Familien gleichzeitig, so groß war noch in den 60er-Jahren die Wohnungsnot. Nachdem die Mieter ausgezogen waren, musste zunächst weiter ausgebaut werden, Tochter Christa und der angehende Schwiegersohn Klaus Beckschulte waren auch schon dabei.
1966 läuteten die Hochzeitsglocken, da waren die beiden Wohnungen im Erdgeschoss und in der ersten Etage fertig. „Da war drumherum noch ganz viel Wald“, erinnert sich Karl Beckschulte; und auch daran, dass die Birkenstraße damals noch ein staubiger oder matschiger Feldweg war. Die Familien richteten sich ein, Gertrud Böhm legte einen großen Garten an.
Das blieb neben der Arbeit rund um Haushalt und Familie sowie Jobs bei Landwirten in der Umgebung über Jahrzehnte ihr Refugium und ist es noch heute. „Viel Bewegung an der frischen Luft“, das ist auch ihrer Tochter zufolge das Rezept, mit dem man 105 Jahre alt werden kann. Da wurden und werden Salat, Gemüse und Kartoffeln angebaut, haufenweise Obst von den Apfel- und Kirschbäumen gepflückt.
Und in einem Gewächshaus werden junge Pflanzen gezogen. „Ich säe in kleinen Töpfchen aus“, hilft Schwiegersohn Klaus Beckschulte bei der Gartenarbeit. Wenn es regnet, hält sich Gertrud Böhm auch dort gern auf; Hauptsache, sie ist im Garten. Der ist zwar heutzutage in einigen Bereichen eingesät, Kartoffeln werden nicht mehr angepflanzt. Doch die Verbundenheit zur Natur unter freiem Himmel schätzt die Jubilarin auch als nun älteste Bürgerin des Kreises Soest weiterhin.
Die Evangelische Frauenhilfe Welver/Recklingsen gratuliert der Jubilarin Gertrud Böhm herzlichst zu ihrem 105. Geburtstag und wünscht ihr alles Gute, Gesundheit und Gottes Schutz und Segen im neuen Lebensjahr. „Gertrud Böhm ist seit 1956 (67 Jahre) Mitglied der Frauenhilfe und nimmt immer noch regen Anteil, vor allem über ihre Tochter Christa Beckschulte, an der Arbeit der Frauenhilfe. Wir danken ihr herzlich für ihre treue Mitgliedschaft“, heißt es von der Vorsitzenden Hildesuse Sommerfeld.
Die Freizeit widmete Gertrud Böhm auch der evangelischen Frauenhilfe. 67 Jahre ist sie diesem Verband treu, seit 1966 in Welver, wo sie auch als Bezirksfrau fungierte. Dieses Amt hatte sie an ihre Tochter Christa Beckschulte weitergereicht. Seit Corona konnte sie die Treffen aber nicht mehr besuchen.
Als 105-Jährige wird sie am Sonntag auch von Bürgermeister Camillo Garzen Besuch bekommen; als Fast-Nachbar hat er keinen weiten Weg. Dann könnte er auch mit Gertrud Böhms Enkelin Silke plaudern, die regelmäßig aus Erwitte zu Besuch kommt. Oder auch mit ihren zwei Urenkeln und sogar mit ihren beiden Ururenkeln. Vier und fünf Jahre alt sind die beiden jüngsten Nachkommen, also ein Jahrhundert jünger als Gertrud Böhm.