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Kriegsflüchtlinge erzählen in Hirschberg von ihrem Schicksal: Krieg ist näher als viele denken

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Glücklich, in Hirschberg in Sicherheit zu sein: Yana Pustovoit (rechts) mit ihrem Sohn Nazar (vorn rechts) und ihrer Mutter Svetlana (Mitte hinten). Links Inna Jankovenko und ihr Sohn Mark.
Glücklich, in Hirschberg in Sicherheit zu sein: Yana Pustovoit (rechts) mit ihrem Sohn Nazar (vorn rechts) und ihrer Mutter Svetlana (Mitte hinten). Links Inna Jankovenko und ihr Sohn Mark. © Leonie Craes

Yana Pustovoit ist Ukrainerin und lebt jetzt in Hirschberg. Sie ist 35 Jahre alt und floh mit ihrer Mutter Svetlana, ihrem Sohn Nazar sowie ihrer Freundin Inna Jankovenko und deren Sohn Mark aus ihrer Heimatstadt Kremenchuk. Bei einer Tasse Tee berichtet die Ukrainerin von ihrer Heimat, dem Krieg, der Flucht, ihrer jetzigen Situation und ihren Plänen für die Zukunft.

Hirschberg - Yana Pustovoit ist Ukrainerin und lebt jetzt in Hirschberg. Sie ist 35 Jahre alt und floh mit ihrer Mutter Svetlana, ihrem Sohn Nazar sowie ihrer Freundin Inna Jankovenko und deren Sohn Mark aus ihrer Heimatstadt Kremenchuk. Bei einer Tasse Tee berichtet die Ukrainerin von ihrer Heimat, dem Krieg, der Flucht, ihrer jetzigen Situation und ihren Plänen für die Zukunft.

Seit knapp sechs Wochen bewohnen Flüchtlinge das Gebäude der alten Drachenschule – inzwischen leben 34 Personen dort – und Yana Pustovoit stellt fest: „Es geht uns mittlerweile besser und wir werden alle ruhiger. Denn wir wissen, dass wir hier sicher sind“. Für dieses Gefühl der Sicherheit ließen sie alles hinter sich. „Unser richtiges Leben und unser Zuhause, unsere Arbeit und unsere Schulen, unsere Aktivitäten und Freunde - wir hatten alles was wir brauchten“, berichtet die Ukrainerin. Doch sie fühlten sich gezwungen zu gehen, es sei einfach zu gefährlich gewesen. Sechsmal täglich wären Alarmsignale ertönt und sie hätten nie gewusst, wo die Bombe als nächstes einschlagen würde. „Es war ein großer Schock für uns. Nie hätten wir gedacht, dass so etwas passieren könnte“, erzählt Pustovoit und die anderen anwesenden Frauen stimmen ihr nickend zu.

In Hirschberg fühlen sich die Ukrainer und Ukrainerinnen wohl. Es sei „ein wunderschöner Ort, ohne fliegende Bomben“, merken die Anwesenden an und Yana Pustovoit ergänzt: „Hier leben sehr viele liebe und nette Leute, das macht den Ort besonders“.

Inna Jankovenko erzählt, dass sie kürzlich eine Ukrainerin in Warstein getroffen hätte, die von einer Familie in ihr Haus aufgenommen worden wäre. „Sie hat uns sehr viele Fragen gestellt und wir konnten ihr alle beantworten, dank der ehrenamtlichen Helfern, die uns diese Informationen bereits gegeben hatten. Die machen wirklich einen guten Job!“, lobt die Ukrainerin die Flüchtlingshilfe in Hirschberg.

Die beiden Mütter wissen, dass besonders die Kinder sich vor Ort bereits integrieren. Die ukrainischen Mädchen und Jungen würden mit den kleinen Hirschbergerinnen und Hirschbergern fast täglich gemeinsam Fußball spielen oder sich anderweitig zusammen beschäftigen. „Die Kinder kommunizieren ohne Sprache und spielen alle zusammen, das freut uns sehr“, betonen Yana und Inna ihre Dankbarkeit gegenüber dem unkomplizierten Umgang der Kinder miteinander. Auch in der Lioba-Grundschule und der Sekundarschule Belecke werden die Kinder betreut und fühlen sich aufgehoben.

Leinwände und Farbe besorgt

Einige Flüchtlingskinder können ihre ursprünglichen Hobbys in Deutschland bereits fortsetzen. Yanas Sohn Nazar lernte in der Ukraine Saxophon zu spielen und Mark, der Sohn von Inna, das Akkordeon. Die beiden Jungs haben nun Online-Musikunterricht und können ihre Fertigkeit weiter verbessern. In der nächsten Zeit wollen sie schauen, ob sie sich auch einem heimischen Sportverein anschließen.

Doch momentan suchen Yana Pustovoit und Inna Jankovenko erstmal eine eigene kleine Wohnung, gerne in Hirschberg oder der Umgebung.

Des Weiteren planen sie Deutsch zu lernen, doch Yana stellt klar: „Wenn der Krieg morgen enden würde, würden wir uns direkt auf den Weg in unsere Heimat machen“. „Wir müssen schließlich unser Land wieder herrichten“, ergänzt ihre Freundin. Denn aus den Augen ist definitiv nicht aus dem Sinn: Jede freie Minute sorgen sich die Bewohner um ihre Heimat und die Menschen, die sie zurückgelassen haben. Yana Pustovoit berichtet, dass alle noch in täglichem Kontakt mit Familie, Freunden und Bekannten stünden. „Wir erfahren aus erster Hand was passiert, was für Probleme die Menschen dort haben, was sie brauchen und wir wollen ihnen unbedingt helfen!“.

Aus diesem Grund besorgte sie sich Leinwände und Farbe und begann zu malen. Mit ihrem künstlerischen Talent schafft Yana einzigartige Kunstwerke. Diese will sie verkaufen und das eingenommene Geld an die Krankenhäuser der Ukraine spenden.

Menschen in der Ukraine haben keine Matratzen

Ihren alten Job kann Yana Pustovoit nicht mehr ausüben. In der Ukraine führte sie mit ihrer Mutter seit über zehn Jahren ein eigenes kleines Unternehmen. Sie entwarfen Braut- und Abendkleider, Kostüme und Anzüge sowie außergewöhnliche Accessoires und stellten diese eigenständig her. Das Mutter-Tochter-Duo hat Kunden auf der ganzen Welt, doch bereits kurz nach dem Kriegsausbruch erschwerten Lieferschwierigkeiten ihre Arbeit und nun, ohne ihre Arbeitsutensilien und das notwendige Material, ist es ihnen gar nicht möglich weiterzumachen. Sie mussten ihre Arbeit, die sie so sehr lieben, aufgeben und hoffen jetzt, dass sie ihr Geschäft eventuell von Deutschland aus erneut aufbauen können oder einen ähnlichen Job hier in der Nähe finden. Bis dahin kreiert Yana Pustovoit bunte Kunstwerke und hofft, dadurch bald Menschen helfen zu können.

Denn Hilfe ist dringend notwendig und die Ukrainerinnen wissen auch inwiefern. Denn sie stehen im direkten Austausch mit den Betroffenen und berichten von einer derzeit am meisten benötigten Sache: Matratzen. Die Ukrainer und Ukrainerinnen flüchteten alle in den Westen der Ukraine, doch nun fallen auch dort Bomben und die Menschen treffen sich alle im Zentrum des Landes. „Dort ist gar nicht genug Platz für all diese Menschen. Es gibt keine Betten und noch schlimmer keine Matratzen. Sie haben keinen Ort zum Schlafen und übernachten auf kalten Böden, überall dort, wo es noch Dächer gibt“, schildert Pustovoit die schreckliche Lage.

Selbst wenn die Leute Matratzen kaufen wollen würden, könnten sie das nicht, weil es im kompletten Zentrum keine mehr gäbe. „Es gibt bestimmt viele Menschen, die noch eine Matratze haben, die sie nicht mehr brauchen oder die ihnen zu alt ist und diese Matratze könnte in der Ukraine die schlaflosen Nächte einiger Menschen ein kleines bisschen erträglicher machen“, so die 35-Jährige.

Doch nicht nur der Erwerb von Matratzen ist schwierig bis nahezu unmöglich, die meisten Geschäfte der Ukraine sind leer gefegt. Die Preise für Nahrungsmittel sind zumeist noch höher als in Deutschland, in den besetzen Gebieten sogar bis zu drei Mal so hoch. Alle anderen Sachen werden immer teurer und selbst wenn genügend Geld da ist, gibt es oft die benötigten Dinge nicht. „Alles kommt nur noch vom Westen und das dauert einfach zu lange“, weiß Yana Pustovoit.

Einige ukrainische Familien fliehen in Richtung Westen, doch viele wollen ihre Heimat nicht verlassen und lieber vor Ort bleiben. „Oft wollen die Eltern ihre Heimatstadt nicht verlassen und die Kinder entscheiden sich dann dazu, bei ihnen zu bleiben und auch nicht zu fliehen. Andere wollen ihre Existenz nicht verlieren und wissen, dass sie ihre Arbeit hier in Deutschland nicht fortführen können. Wir haben auch von vielen Ärzten und Ärztinnen gehört, die in den Krankenhäusern bleiben, um den Menschen dort das Leben zu retten“.

In der Ukraine sei niemand mehr sicher

Die Ukrainerin ist sich sicher: „Das Wichtigste ist, dass wir der Welt helfen zu gewinnen. Denn das ist nicht nur das Problem der Ukraine“. Dieser Krieg werde auch andere Länder erreichen und zerstören. Yana belegt dies mit den Worten: „Warum sollten sie stoppen, wenn sie keiner stoppt?“. Jemand müsse die Menschen in ihrem Zuhause vor jenen retten, die unbedingt Krieg wollen. In den Medien wird viel über die Ereignisse in Kiew und Butscha berichtet. Yana und ihr Sohn Nazar kennen diese Städte sehr gut, noch im November des vergangenen Jahres verbrachten sie einige Tage in Butscha und dem „wunderschönen Park dort“, erinnert sich Yana Pustovoit. Sie erzählt, wie sie ihrem Sohn Videos von der zertrümmerten Stadt gezeigt hat und er erschrocken zu ihr sagte: „Mama, da sind wir doch noch hergelaufen und in dem Park hatten wir so eine schöne Zeit“. Und beiden ist bewusst, wie es den Menschen dort ergangen ist: „Menschen, mit denen ich in dem Park noch geredet und Kinder, mit denen Nazar gespielt hat, sind nicht mehr am Leben“, stellt Yana mit erstickender Stimme fest.

In der Ukraine sei niemand mehr sicher, die Leute wüssten nicht, wo und wann die nächste Bombe einschlagen würde. Russische Soldaten würden zudem ukrainische Häuser zerstören, sie ausrauben und die Sachen ihren Familien schicken. Doch das sind nicht die einzigen Gefahren, die den Ukrainern und Ukrainerinnen Tag und Nacht drohen. Yana Pustovoit berichtet von Gräueltaten russischer Soldaten, während ihr Tränen über die Wange laufen.

Jeder normale Mensch würde sich fragen „Wie ist sowas möglich?“, aber diese Aktionen würden verdeutlichen, was für eine Moral und was für Prinzipien russische Soldaten hätten. „Das ist die Wahrheit und die muss erzählt werden“. Pustovoit ist sicher, dass sie hier mehr für die Menschen in ihrer Heimat tun könne als dort, indem sie Menschen hier von der brutalen Realität erzähle und ihnen dadurch ermögliche, sich ein Bild von diesen unvorstellbar schrecklichen Vorkommnissen zu machen und zu realisieren: „Die Menschen brauchen mehr als nur Kleidung und Essen!“ Tagtäglich kämpfen Menschen dort um ihr Leben. „Einige mögen denken, das sei nicht ihr Problem, aber wir haben gesehen, wie schnell sich das gesamte Leben verändern kann und es ist Krieg in Europa - das ist näher dran und gefährlicher als einigen bewusst ist. Es muss gehandelt werden“, stellt die 35-jährige fest. „Ich möchte allen Danken, die nicht nur Zusehen, die helfen, sich Sorgen machen und zeigen, dass sie ein großes Herz haben.“

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