Das sei damals, als sie in den 1950er-Jahren nach Suttrop gekommen war, eben so gewesen, dass man mit der Herkunft aus den russischen Gebieten nicht offen umgegangen sei. Ihren Mann, den sie in Suttrop kennengelernt hatte, störte das nicht, aber er riet ihr: „Du sagst, du kommst aus Karlsruhe.“ Und das stimmte auch, nur war es das 1810 gegründete Karlsruhe in der Nähe von Odessa.
Dort waren ihre Eltern Ende des 19. Jahrhunderts geboren worden, später auch sie und ihre drei Brüder. Der Vater hatte eine Schmiede, Pferde und Kühe, die Mutter arbeitete in einer Kolchose. Vier Kilometer habe sie zur deutschen Schule laufen müssen, erinnert sie sich. Russisch oder Ukrainisch lernte sie nicht, in dem von Schwarzmeerdeutschen besiedelten Gebiet. Doch der zunehmende Konflikt zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland erschwerte das Leben. Als sie vier Jahre alt war, wurde der Vater nach einer Reise nach Deutschland wegen Spionage verhaftet. Sie sah ihn nie wieder.
Nachdem die deutsche Armee sich aus Russland zurückziehen musste, begannen die Dienststellen des Deutschen Reiches mit der Umsiedlung der in der Ukraine lebenden Deutschen. Der Beginn einer insgesamt fast fünfjährigen Flucht. In einem Treck mit Planwagen, Pferden und Kühen ging es zunächst in den Warthegau nach Polen. „Unterwegs sind Menschen gestorben, und Kinder wurden geboren“, erinnert sich die Warsteinerin. Ihr 18-jähriger Bruder war da schon bei der Wehrmacht, kam nicht aus dem Krieg zurück. Der zweite Bruder war beim Arbeitsdienst, galt als verschollen – 1947 fanden sie ihn wieder.
Nachdem die russische Armee auch auf den Warthegau zumarschierte, ging es nach Schwedt, das nach Kriegsende in der russisch besetzten Zone lag. „Da hat uns der Bürgermeister gewarnt, dass die Russen Deutsche aus den russischen Gebieten verschleppen würden.“ Die Familie floh weiter nach Berlin, beantragte in der Westzone Asyl.
In Berlin wurde die Mutter schwer krank, die Warsteinerin und ihr Bruder kamen ins Kinderheim. Ein nettes, kinderloses Ehepaar kümmerte sich liebevoll um sie, wollte sie adoptieren. Aber die Mutter wurde wieder gesund. Per Flugzeug ging es weiter nach Bremen, von dort nach Velmede ins Sauerland.
„Wir haben immer gute Menschen getroffen“, sagt die 89-Jährige, als sie am Mittwoch ihre Geschichte ukrainischen Flüchtlingen und Helfern der Suttroper Flüchtlingsgruppe erzählt. Sie denkt an den Bürgermeister von Schwedt, das Ehepaar aus Berlin oder den Maschinisten in der Nähfabrik in Warstein, der nach der Geburt ihres Sohns dafür sorgte, dass sie einen Teilzeitjob bekam.
Viele gute Menschen haben auch Aleksandra Shurun auf der Flucht mit ihrem Sohn aus der Ukraine geholfen. Im März 2022, nachdem sie zehn Tage Krieg in ihrer Heimat miterleben musste. Mit dem Zug ging es von Kiew nach Lwiw. „Viele Freiwillige“ hätten dort dafür gesorgt, dass es weiter nach Polen ging. „Dort konnte man die Energie der Menschen spüren“, habe es eine enorme Hilfsbereitschaft gegeben. Die zeigte sich in Polen und der Ukraine unter anderem, als bei stundenlangen Fahrtunterbrechungen Menschen aus den umliegenden Dörfern Essen und Getränke verteilten.
Jetzt erlebt sie diese Energie in Suttrop. „Wir bekommen viel Hilfe mit allem“, sagt sie. Sei es mit der Unterkunft oder der Organisation der kostenlosen Bus- und Bahnticktes oder Sim-Karten der Telekom. Aleksandra selbst lebt mit ihrem Sohn bei Irmgard Wagner. Ihre Mutter, die nachgekommen ist, ist – wie alle der 15 bis 20 Ukrainer in Suttrop – ebenfalls privat untergebracht.
Die ersten zehn Kriegstage hat Aleksandra mit ihrer Familie in einem Dorf in der Nähe von Kiew verbracht. Sie dachten, dass es dort sicherer sei als in der Stadt. Doch der Keller, in dem sie lebten, stellte keine Sicherheit dar. „Er hätte uns nicht gerettet“, sagt Aleksandra.
Ihre Kriegserfahrung beschreibt die Ukrainerin eindrucksvoll: „Wir hörten Helikopter, Flugzeuge und Raketenbeschuss. Es war ein Gefühl ständiger Angst, dass dein Leben in jeder Minute zu Ende sein kann. Es gab keine Minute der Entspannung. Dinge wie duschen fühlten sich sinnlos an. Es waren russische Soldaten im Dorf. Wir hatten Angst, uns auf den Weg zum Bahnhof nach Kiew zu machen, Angst, erschossen zu werden.“
Erst als am zehnten Tag eine Bombe in der Nähe des Hauses explodierte, machten sie sich doch auf den Weg. Ihr Mann blieb zurück, über Messengerdienste hat sie aber per Smartphone Kontakt zu ihm. Er hat berichtet, dass die Situation weiter gefährlich sei durch gelegentlichen Raketenbeschuss und vor allem durch von den Russen zurückgelassenen Minen.
48 Stunden brauchte Aleksandra mit ihrem Sohn bis Warschau, nach zwei Wochen waren sie in Deutschland. Mittlerweile geht ihr Sohn in Warstein zur Schule.
Die 16-jährige Lena Kleinschnittger, die in Suttrop die Kinder betreut während ihre Mütter Deutsch lernen, berichtet vom Schulalltag am Gymnasium: „Die Lehrer und Schüler gehen sehr gut auf die Kinder aus der Ukraine ein.“ Die Ukrainer würden viel lachen und sich wohlfühlen, erklärt sie.
Neben dem Unterricht an Grund-, Sekundarschule oder Gymnasium steht für die Ukrainer am Wochenende Homeschooling auf dem Stundenplan. „Sie wollen ihren Abschluss machen oder die Versetzung schaffen“, weiß Irmgard Wagner.
Eine Parallele zur 89-Jährigen. Denn als die nach Velmede kam, ging sie dort noch ein Jahr zur Schule, um ein Abschlusszeugnis zu bekommen. Denn ihre Zeugnisse waren durch die Flucht verloren gegangen. Sprachschwierigkeiten hatte sie nicht, denn in ihrer Heimat wurde ja Deutsch gesprochen.
Die aktuellen Ukraine-Flüchtlinge verstehen erst ein bisschen Deutsch. Die Jüngeren verständigen sich auf Englisch, das in der Ukraine in vielen Schulen als erste Fremdsprache gelehrt wird. Die Älteren behelfen sich mit dem Smartphone und nutzen Übersetzungs-Apps.
Noch einmal zurück zur hilfsbereiten 89-Jährigen. Sie hat großzügig gespendet – mit einer Bedingung: Das Geld soll genutzt werden, um den Flüchtlingen Freude zu vermitteln. Ein Pizzaessen oder ein Ausflug – Hauptsache ein bisschen Spaß, der ablenkt von den Sorgen. Und zu Kaffee und Kuchen könnten die Flüchtlinge gerne auch einmal zu ihr kommen. „Den Kuchen bringen wir aber mit“, sagt Hildegard Becker. Die resolute Antwort der Rentnerin: „Kuchen kann ich aber selber backen.“
Schwarzmeerdeutsche werden die Bewohner ehemals deutscher Siedlungen am Nordufer des Schwarzen Meeres auf dem Gebiet der heutigen Ukraine genannt. Der 17. Oktober 1803 gilt als Gründungstag der schwarzmeerdeutschen Kolonien bei Odessa. Der russische Kaiser Alexander I. kaufte an diesem Tag Land für die Kolonisten an. Im Frühjahr 1804 entstanden Großliebental und Kleinliebental als erste Ansiedlungen. 1810 wurde der Ort Karlsruhe gegründet. Die Gesellschaft der Schwarzmeerdeutschen war agrarisch geprägt. Die Auswanderer wirtschafteten anfangs fast ausnahmslos als Landwirte auf Boden, den ihnen der russische Staat zur Verfügung gestellt hatte. Haupteinnahmequelle war der Getreideanbau. „Die Ukraine war die Kornkammer Europas“, erinnert sich die 89-jährige Warsteinerin.