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Ein Jahr Krieg, ein Jahr in Deutschland: Heimweh ist ein chronischer Schmerz

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Von: Kathrin Bastert

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Kseniias Heimatstadt Sumy
Kseniias Heimatstadt Sumy war zu Beginn der russischen Invasion schwer umkämpft. Die Sorge ist groß, dass sich die Lage dort noch einmal verschlimmert. © Michal Burza/dpa

Kseniia lebt seit einem Jahr in Soest. Die junge Frau hat es gut getroffen. Doch das Heimweh ist groß, und die Angst um ihr Land ist allgegenwärtig.

Soest – Der Schmerz hält seit einem Jahr an. Unfassbare zwölf Monate, seit sie in Soest ankam. 52 Wochen, in denen nie wirklich Hoffnung auf Frieden in ihrer Heimat aufkam. 365 Tage voller Sorge, Heimweh und Ungewissheit. Kseniia Berezina hat es gut getroffen, das wird sie in diesem Gespräch immer wieder betonen. Sie hat in Soest Menschen gefunden, die sie bei sich, in ihrer Familie aufgenommen haben. Die sie unterstützen, bei all den Behördengängen genauso wie emotional. Sie spricht die Sprache. So gut, dass sie ohne eine einzige Kursstunde die B2-Prüfung ablegen konnte. Sie hat Arbeit, solche sogar, die sie sich als praktisches Jahr in der Ukraine anrechnen lassen kann. Das bringt sie ihrer Approbation als Ärztin entscheidend näher.

Die Voraussetzungen für einen Start in Deutschland könnten besser kaum sein. Doch etwas ist fundamental falsch. Kseniia sollte nicht hier sein. Es sollte kein Krieg sein. Wenn es ihr schlecht geht, dann denkt sie an „ihre Leute“. Daran, was die auf sich nehmen, um für ihre Freiheit zu kämpfen, für ihr Land und die Zukunft ihrer Kinder. „Es sind so mutige Leute“, sagt die 25-Jährige. „Sie schlafen unter der Erde. Es ist kalt bei uns, es schneit.“ Einer der Mutigen ist ihr Zwillingsbruder. Er ist Kommandeur in der ukrainischen Armee. Er trägt viel Verantwortung, für sich selbst und für viele junge Männer, die vor einem Jahr noch ein ganz normales Leben lebten. Und plötzlich Soldaten sein müssen.

Kseniia Berezina
Schon seit einem Jahr lebt Kseniia Berezina in Soest. Das Heimweh ist groß. © Bastert, Kathrin

Krieg in der Ukraine: Der Zwillingsbruder ist alt geworden

Alt sei er geworden, sagt Kseniia, wenn man sie nach ihrem Bruder fragt. Und müde, unsagbar müde. Die Geschwister stehen in Kontakt, doch Kseniia würde gern noch öfter mit ihm reden. Manchmal fragt sie ihn, ob er nicht gehen möchte, einfach weg, in Sicherheit. „Und was dann?“, fragt er zurück, „die Russen übernehmen lassen?“ Alles, nur das nicht. Im November hat Kseniia die Familie besuchen können, auch ihren Bruder hat sie gesehen. Sie musste zunächst nach Kiew reisen, dort stand eine wichtige Prüfung an. Die Uni hielt an der Durchführung fest, obwohl für den Prüfungstag Raketenangriffe angekündigt waren. Tatsächlich kam es so: Kseniia hatte ihre Tests am Morgen, nachmittags gab es Luftalarm. Da war sie gerade in der U-Bahn, wollte nur wenige Stationen fahren, dann in den Bus in Richtung ihrer Heimatstadt umsteigen. Doch der Verkehr stand still: In den U-Bahn-Schächten suchten die Menschen Schutz. Die junge Frau ließ sich nicht stoppen, nahm schließlich ein Taxi zur Haltestelle. „Ich habe viel Geld bezahlt, weil es so gefährlich war. Aber ich wollte nur nach Hause.“

Ihre Stadt, Sumy, liegt im Osten der Ukraine, nur 20 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Bisher ist Sumy einigermaßen davongekommen, Schäden gibt es vor allem in umliegenden Dörfern. Der Strom wird ständig unterbrochen, vier Stunden da, zwei Stunden weg. „Meine Mutter ist Notarin. Sie muss ihre Arbeit um die Stromausfälle herum organisieren.“ Glücklich ist, wer einen Generator hat, Akkus werden hoch gehandelt. Vor dem Jahrestag ist die Sorge groß, dass es für die Eltern dort noch gefährlicher werden könnte. Natürlich reden sie über die Möglichkeit, beide nach Deutschland zu holen. „Meine Eltern fragen dann: Warum müssen wir gehen? Es ist unser Zuhause! Und was sollen wir tun, wenn wir in Deutschland sind?“

Wie schwer es sein kann, Fuß zu fassen, das hat Kseniia direkt vor Augen. Ihr älterer Bruder lebt mit seiner Familie in Celle. Er ist Jurist, genau wie seine Frau. Hochgebildet – aber mit ukrainischem Recht kommen sie in Deutschland nicht weit. Die beiden arbeiten in einem Pflegeheim, er, trotz Hüftschaden, als Hausmeister, sie als Küchenkraft. Sie lernen Deutsch, „sehr schnell sogar“, berichtet Kseniia, aber die Aussichten auf einen guten Job sind schlecht. Ein paar Monate lang versuchte es ihre beste Freundin in Deutschland. Sie ist Zahnärztin, doch sie spricht kein Deutsch. Einen Kurs konnte sie nicht besuchen. „Erst gab es keine Plätze, dann keine Lehrer“, erinnert sich Kseniia. Die Freundin ist längst zurück in der Ukraine. „Es ist schwer. Viele machen sich keine Vorstellung davon, wie schwer es ist.“

Flucht nach Deutschland: In Sicherheit, aber fremd.

All den guten Bedingungen zum Trotz: Auch für Kseniia ist es schwer. „Ich bin in Sicherheit, ja. Aber ich bin hier fremd“, sagt sie, „ich weiß nicht, ob das noch anders wird.“ Sie hatte andere Pläne, wollte in ihrem Land leben, dort etwas aufbauen. Sie will bei ihrer Familie sein, ihren Freunden, ihren Leuten. Sie will dort Ärztin sein. Auf gar keinen Fall soll das undankbar klingen. Kseniia Berezina ist zutiefst dankbar für all die Unterstützung, die sie in Soest bekommt. Die Kollegen im Marienkrankenhaus, wo sie einige Monate lang ein Praktikum machen konnte, bemühten sich sehr um sie. Jetzt hat sie im Dialysezentrum ein tolles Team, „sie helfen mir alle sehr“. Doch es bleibt das Gefühl der Machtlosigkeit. Stunden verbringt die junge Frau am Handy, saugt alle Informationen über die Lage in der Ukraine auf, die sie bekommen kann. Sie hört von einer Bekannten, die ihren Mann verloren hat. Sie liest Todesanzeigen von Menschen in ihrem Alter. Sie schickt Geld für den Kauf eines Autos, damit Ärzte zu Patienten fahren können. Das alles ist nicht leicht zu verkraften. „Ich glaube, alle von uns werden Hilfe brauchen. Es ist nicht normal, Krieg zu erleben. Du schaffst es nicht allein, das zu verarbeiten.“

Über manches, was sie anfangs schier zur Verzweiflung trieb, kann sie nach einem Jahr in Deutschland immerhin lachen. Die deutsche Bürokratie, zum Beispiel. „Am Anfang habe ich immer gedacht, es ist meine Schuld, dass alles so lange dauert. Ich dachte, ich hätte etwas nicht verstanden oder vergessen.“ Heute hat sie sich daran gewöhnt, dass die Mühlen hier langsam mahlen – und massenhaft Papier produzieren. „Ich habe so viele Briefe! Zwei Tüten voll. Ich bin seit einem Jahr hier und habe zwei Tüten Papier. Vorher habe ich 24 Jahre in der Ukraine gelebt, so viel habe ich dort nie zusammenbekommen.“ Ukrainer, die nun in Deutschland lebten und zu Besuch in die Heimat führen, würden für ihre Zeit dort alle möglichen Termine machen, erzählt sie weiter. „Wer dort einen Arzt anruft, kann am gleichen oder nächsten Tag dorthin.“ Und wirklich unglaublich findet sie den deutschen Zugverkehr. „In der Ukraine fahren die Züge immer noch. Pünktlich.“ Züge werden eingesetzt, um Städte zu evakuieren.

Dass vieles noch funktioniert, obwohl so viel zerstört wurde, bestärkt Kseniia in ihrer Überzeugung, dass die Ukraine gewinnen wird. „Meine Leute leben weiter, sie kämpfen. Sie freuen sich jeden Tag, denn sie wissen: Morgen kann es schon ganz anders sein.“

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