Für die Soester Wiesenkirche: Dombaumeister arbeitet an neuem Langzeitprojekt

Dombaumeister Jürgen Prigl arbeitet an einem neuem Langzeitprojekt für die Wiesenkirche.
Soest – Es waren sowohl der Zahn der Zeit als auch der mindestens diskussionswürdige Kunstgeschmack der Nazis, die da in luftiger Höhe ihren Tribut gefordert haben: Wo rings um die Wiesenkirche vom Traufgesims herum einmal Gesichter fabelhafter Mischwesen aus Mensch und Tier auf Soest hinabblickten, sind nur noch formlose Steinreste geblieben. Wenn es nach Dombaumeister Jürgen Prigl geht, wird das aber nicht so bleiben.
„Altersteilzeit“ wird relativ, wenn der 63-Jährige von seinem gar nicht so neuen Projekt spricht: Die Idee dazu hatte er bereits vor knapp zwei Jahren, inzwischen hat er schon rund 120 eigentlich freie Stunden in den Wintermonaten investiert – und aus einem großen Block Oberkirchener Sandstein drei Chimären gehauen. Also die bereits erwähnten Mischwesen.
Sie haben Jürgen Prigl schon lange fasziniert – so sehr, dass der renommierte Fachmann, für den die Restaurierung der Wiesenkirche mit den Jahrzehnten gleichermaßen zu einer Angelegenheit professionellen Ehrgeizes und emotionaler Hingabe geworden ist, beschloss, die insgesamt 88 Figuren auf den markanten Türmchen (Fialen) in rund 25 Metern Höhe zu erneuern.
Herausforderung und Chance zugleich dabei: Es gibt, bis auf das noch erhaltene Original im Inneren der Kirche, das als Vorlage für die später wahrscheinlich lediglich kopierten Chimären an der Außenseite diente, keine „Muster“ für die Figuren, die jetzt neu entstehen sollen.
Technisch ist die Aufgabe auch für einen erfahrenen Steinarbeiter wie Prigl eine große Herausforderung – thematisch vor allem aufregendes und inspirierendes „Neuland“, das er mit jeder Chimäre betritt, die er freihändig und ohne weitere technische Hilfsmittel aus dem Stein schlägt.
Er hofft und glaubt, mit diesem Projekt das Interesse von Kollegen, Kirchenhistorikern und anderen Fachleuten zu wecken, weil er darin eine Möglichkeit sieht, die reiche Geschichte der Wiesenkirche, die bis ins Jahr 1313 nach Christus zurückreicht, mit der Gegenwart und Zukunft zu verbinden.

Jürgen Prigl gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn er auf das Potenzial für dieses Langzeitprojekt zu sprechen kommt, dessen Umsetzung einige Jahre in Anspruch nehmen wird – und das er nur zu gerne möglichst vielen fähigen Händen anvertrauen würde. Das Potenzial hat natürlich ganz wesentlich damit zu tun, wofür die Chimären stehen (siehe Infokasten).
Wo die Mischwesen viele Jahrhunderte lang unter anderem für charakterliche Eigenschaften wie Geiz und andere standen, die dem Menschen alleine wenig gut zu Gesicht standen, sieht Prigl jetzt vor allem in ihnen ein zeitloses Medium für die Darstellung des Werdeganges der Menschheit, der sich in atemberaubendem Tempo vollzieht.
In Zeiten von künstlicher Intelligenz, Genmanipulationen, Transplantationen von Organen und Körperteilen und vielen anderen Entwicklungen wird der Mensch, so Jürgen Prigl, offenbar immer mehr zu einem Wesen, dessen Grenzen als Individuum schon jetzt nicht mehr annähernd so eindeutig scheinen, wie sie mal empfunden wurden.
In einigen Jahren, so seine Hoffnung, könnten alle neuen, modernen Chimären an der Wiesenkirche installiert sein – und von interessierten Besuchern auf dem begehbaren Traufgesims auch ganz aus der Nähe betrachtet werden.