Lebenslange Suche: Frau glaubt, dass ihre Identität in Soest vertuscht wurde

Ursula Kranz glaubt, dass ihre wahre Identität einst in Soest vertuscht wurde. Ihre Spurensuche dauert schon ein ganzes Leben.
Soest – Ursula Kranz’ Spurensuche dauert schon ein ganzes Leben. Immer war da das Gefühl, dass etwas nicht stimmt an der Geschichte, die ihr die Adoptiveltern über ihre Herkunft erzählten. Sie erinnert sich an viele unbeantwortete Fragen, an eine Adoptivmutter, die in Tränen ausbrach, sobald die Tochter nicht lockerließ. Einen Patenonkel, der ein hohes Amt bekleidete und wichtige Sitzungen unterbrach, um herbeizueilen, weil es wieder „um Ursula“ ging.
Es ist gut 20 Jahre her, da begann Ursula Kranz, intensiver nachzuforschen. Alles nahm 1956 in Soest seinen Anfang. Hier soll sie zur Welt gekommen sein, am 5. Dezember im damaligen Evangelischen Versorgungshaus in der Haarhofsgasse. In das Mutter-Kind-Heim kamen damals ledige, „erstgefallene“ oder „sittlich gefährdete“ schwangere Mädchen. Sie blieben, bis nach der Geburt Pflegefamilie, Heimplatz oder Adoptiveltern für das Kind gefunden – und sie selbst „auf den rechten Weg gebracht“ waren.
Zum Zeitpunkt der Zeugung saß ihr Vater in Haft
So muss es auch für die 25-jährige Marianne L. (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt) gewesen sein. Laut des Tagebuchs des heutigen Marie-Haverkamp-Hauses brachte sie dort am 5. Dezember 1956 ein Kind mit Namen Ursula zur Welt. Als Vater ist ein Erich M. eingetragen, 37 Jahre alt.
Ursula Kranz hat erhebliche Zweifel, dass es sich bei den Genannten tatsächlich um ihre leiblichen Eltern handelt. Sie hat Hinweise gesammelt, Merkwürdigkeiten zusammengetragen. Sie traf Marianne L. persönlich – „ich bin nicht die Tochter dieser Frau. Es gibt nicht mal im Ansatz eine Ähnlichkeit“, sagt sie. Sie forscht nach ihrem Vater – und erfährt: Zum Zeitpunkt ihrer Zeugung saß der Mann in Haft. „Übrigens wegen Unterhaltssäumigkeit“, berichtet sie.
Dass er dann noch ein weiteres außereheliches Kind gezeugt haben sollte, das habe die Familie des Mannes zerstört, erfährt sie, als sie später Kontakt zu den Söhnen aufnimmt. Viele Jahre nach seinem Tod habe sie seinen Kindern berichten können, dass er wohl zumindest mit ihrer Existenz nichts zu tun gehabt habe.
Hat der Vater der angeblichen Mutter die Fäden bei einer Vertuschung gezogen?
Ursula Kranz fügt die Puzzlestücke ihres Lebens zu einem Bild zusammen. Eine Rolle müsse der Vater ihrer angeblichen Mutter gespielt haben, vermutet sie. Hat dieser Mann die Fäden gezogen bei der Vertuschung einer ungewollten Schwangerschaft?

Marianne L. galt als hirngeschädigt, nachdem ihr im Krieg ein Schrank auf den Kopf gefallen sein soll. Sie will sich aber daran erinnert haben, dass sie Ursula anstelle einer Fehlgeburt als ihre Tochter ausgegeben und auch, dass der angebliche Kindsvater nichts mit ihr zu tun gehabt habe. Das berichtete sie Ursula. Das bestätigte sie auch ihrer zweiten Tochter. Kurz vor ihrem Tod ließ sie auf eine letzte schriftliche Anfrage Ursulas über den BDH (Bundesverband für Rehabilitation und Interessenvertretung Behinderter) erklären, „sie wisse absolut nicht, wer Ihre Eltern sind oder waren.“
Taufbescheinigung datiert aus Dezember 1956 - da wird Ursula Kranz stutzig
Auf den Gedanken, dass sie ihr Bauchgefühl nicht trügt und tatsächlich etwas nicht stimmt, kommt Ursula Kranz, als sie in einer Taufbescheinigung die Namen ihrer Paten entdeckt: den Bruder ihres Adoptivvaters, eine Cousine der Adoptivmutter. Allerdings datiert der Eintrag bereits aus Dezember 1956. „Zu dem Zeitpunkt können mich die Paten noch gar nicht gekannt haben, nicht einmal meine Adoptiveltern kannten mich.“
Adoptiert wird Ursula im September 1957. Die Patentante erzählt ihr viel später, sie sei irgendwann gefragt worden, ob sie die Patenschaft übernehmen wolle. Auf ihre Frage, wann sie zur Taufe kommen solle, habe sie die Antwort erhalten, sie müsse nicht kommen. Eine Cousine Ursulas erinnere sich, sie habe Anfang der 60er-Jahre die Familie besucht, die Erwachsenen seien dann mit der etwa fünfjährigen Ursula weggefahren, das Mädchen musste allein in der Wohnung bleiben. „Damals hat man ihr gesagt, ich würde getauft werden. Sie erinnerte sich so gut daran, weil sie sich darüber ärgerte, dass sie nicht mitdurfte.“ Das offenbar frisierte Taufbuch bringt Ursula Kranz auf die Spur, dass ihre wahre Identität vertuscht worden sein könnte. Nur: Wer sind ihre wahren Eltern?
Ein Soldat gibt ihr einen Verdacht
Die Antwort darauf hat sie bis heute nicht gefunden. Aber sie hat einen Verdacht. So habe Marianne L. in einem der Gespräche von einem Soldaten berichtet, der eines Tages in dem Mutter-Kind-Heim „einen Aufstand“ gemacht haben soll – weil er Ursula und mutmaßlich deren echte Mutter habe abholen wollen. Der Uniformierte soll dermaßen randaliert haben, dass die Militärpolizei angerückt sei und ihn mitnahm.
Ursula Kranz glaubt, dass es sich um einen britischen Soldaten gehandelt haben muss. Eine entsprechende Recherche bei der „Royal British Army“ allerdings ist schnell erledigt: Man könne in den Aufzeichnungen keinen Vorfall finden, der in diesen Kontext passe, heißt es in einer sehr höflich formulierten E-Mail. Der Versuch, gleiches bei den kanadischen oder belgischen Streitkräften zu erfragen, endet im Nirgendwo der Zuständigkeiten.
Tagebuchauszüge werden die Schätze behandelt
Auch im Marie-Haverkamp-Haus gibt es solche Aufzeichnungen nicht. Alles, was Ursula Kranz besitzt, ist der Auszug aus dem sogenannten „Tagebuch“, in dem eben die Namen Marianne L. und Erich M. als Eltern vermerkt sind. Die Hoffnung auf weitere Unterlagen erfüllt sich nicht: „Das ist genau das, was wir haben“, sagt die Leiterin des Marie-Haverkamp-Hauses, Christiane Wiggeshoff. Seit 13 Jahren leitet sie das Haus. Biografie-Anfragen hat sie in dieser Zeit viele bekommen, „die Leute kommen dann her – häufig übrigens nach dem Tod der Mutter – und wollen das Haus sehen, in dem sie geboren wurden. Ihren Tagebuchauszug behandeln sie wie einen Schatz“ – ein Stück Identität auf Kopierpapier.
Was ihr in dieser Zeit nie unterkam, war ein Konflikt mit dem Haus. „Eigentlich habe ich darauf gewartet“, sagt Wiggeshoff. Immerhin haben in den vergangenen Jahren viele ehemalige Heimkinder ihre Geschichte aufgearbeitet. Viele Einrichtungen mussten sich ihrer Vergangenheit stellen. So einen Prozess habe es im Marie-Haverkamp-Haus bisher nicht gegeben, weil sich die Frage danach bisher nicht gestellt habe, sagt Wiggeshoff.
Stadtarchivar: „Das halte ich natürlich für möglich“
Was nicht heißen soll, dass sie Ursula Kranz’ Verdacht für Unsinn hält. „Dass jemand versucht, eine ungewollte Schwangerschaft zu vertuschen, das halte ich natürlich für möglich“, sagt auch der Soester Stadtarchivar, Dr. Norbert Wex. Doch eine Idee, wie die mutmaßlich verlorene Tochter bei ihrer Suche noch ansetzen kann, die hat auch der Experte nicht. „Sollte es so gewesen sein und sollte jemand großen Aufwand betrieben, vielleicht sogar Geld bezahlt haben, um dem Mädchen eine neue Identität zu verschaffen, dann wird er das kaum in irgendwelchen Akten vermerkt haben.“
All das weiß auch Ursula Kranz. Ihr ist auch klar, dass sie jetzt, mehr als 66 Jahre nach ihrer Geburt, am Ende ihrer Suche wahrscheinlich nur noch feststellen würde, dass die Menschen, die sie sucht, tot sind. Aufgeben will, kann, sie trotzdem nicht.
Das Gefühl, ihre eigene Identität nicht zu kennen, das habe ihr Leben geprägt, sagt sie. „Ich möchte wissen, was damals passiert ist. Ich bin auf so viele Ungereimtheiten gestoßen. Das alles kann nicht nur mit der Schande zu tun haben, dass ein junges Mädchen ein Kind bekommen hat.“