1. Soester Anzeiger
  2. Lokales
  3. Soest

So viele wie nie verlassen die Kirchen - 2022 ist in Soest schon jetzt ein Rekordjahr

Erstellt:

Von: Kathrin Bastert

Kommentare

Gottesdienst in der Petrikirche Soest.
Blick auf einen Gottesdienst in der Petrikirche, fotografiert in Corona-Zeiten. Die Reihen werden dauerhaft lichter, der Trend zum Kirchenaustritt ist ungebrochen, auch in Soest, auch in den evangelischen Gemeinden. © Peter Dahm

Der Trend zum Kirchenaustritt ist ungebrochen. Schon jetzt haben 2022 im Bezirk des Amtsgericht Soest so viele Menschen ihrer Kirche den Rücken gekehrt wie nie zuvor:

Soest – In drei Quartalen erklärten 671 Katholiken und 367 Protestanten ihren Austritt aus der Kirche. 2021 traten 825 Gläubige aus. Auch das ein Rekordwert. Wer austritt, ist jung oder alt, eine Statistik werde nicht geführt und eine Tendenz lasse sich nicht erkennen, sagt Richter Ulrich Bellinghoff, stellvertretender Leiter des Soester Amtsgerichts. Gründe muss niemand nennen, der den formalen Verwaltungsakt vollzieht. Mancher tut es trotzdem, bleibt aber vage: „Die Kollegen hören Sätze wie: ,So geht das nicht weiter’.“

Konkreter wird, wer Propst Dietmar Röttger auf dessen Brief antwortet, den er jedem dann ehemaligen Gemeindemitglied schickt. Allzu viel Rücklauf erhält er nicht. Aber aus den Antworten, die er bekommt, kann der Leiter des Pastoralen Raumes Schlüsse ziehen. „Wir sehen: Es ist ein Wandel in der Gesellschaft, den wir als Ortsgemeinde nur bedingt beeinflussen können.“ 380 Gläubige verlor der Pastorale Raum allein im ersten Halbjahr, 280 im Stadtbereich Soest. „Das ist noch einmal eine deutlich höhere Zahl als im Vorjahr.“ Es zeige sich aber, dass nicht nur Kirchenthemen eine Rolle spielten, „sondern auch, dass die Menschen sich zum Austritt entscheiden, weil sie nicht mehr glauben. Wenn Religion und Glaube nicht mehr plausibel sind, ist es letztlich konsequent, die Kirche zu verlassen.“

So viele Kirchenaustritte wie nie im Amtsgerichtsbezirk Soest

Dass die Gemeindemitglieder vor dem Austritt das Gespräch suchen, erlebt der Kirchenmann nicht. Der Entschluss wachse häufig über eine längere Zeit. Manchmal, wenn in den Medien ein Thema – wie Missbrauch oder die Rolle der Frau in der katholischen Kirche – hochkoche, wirke das wie ein Trigger. „Daran ist nicht den Medien die Schuld zu geben. Aber natürlich hat Berichterstattung eine Wirkung.“ Und sie trifft auch die evangelische Kirche, obwohl unbeteiligt an den Skandalen der vergangenen Jahre und unverdächtig, Frauen zu benachteiligen. Er nehme wahr, dass evangelische Christen aus der Kirche austreten, weil sie sich über katholische Hierarchien ärgern, sagt Superintendent Dr. Manuel Schilling. Das scheint unlogisch, zeigt aber: „Sie haben keinen Bezug zu den Strukturen der evangelischen Kirche.“

Auch Corona habe eine Rolle gespielt; bei jenen, denen die Umsetzung der Regeln in den Kirchen zu weit ging. „Das sind Menschen, die zu den Evangelikalen abdriften.“ Er nehme wahr, sagt der Chef des Kirchenkreises Soest-Arnsberg, dass dort, wo seine Kollegen „zielgenau und kontextsicher kirchlich handeln, sehr starke kirchliche Momente“ entstünden. Das Alltagsgeschäft, das sich früher trug, trage dagegen nicht mehr selbstverständlich. „Ich nehme wahr, dass die diakonischen Einrichtungen uns bitten, theologisch zu arbeiten und das Profil zu schärfen, damit die Menschen nicht nur sauber und satt sind, sondern auch geistlich gestärkt werden.“

Immer mehr Kirchenaustritte - Trend ist ungebrochen

Bei denen, die bleiben, spüre er eine gewisse Traurigkeit, sagt Schilling. Es müsse darum gehen, diejenigen, die sich engagieren, aber angesichts des Gesamttrends frustriert und ratlos sind, „zu ermutigen und die Kompetenz zu stärken“. Er sehe Kirche als „Trägerin einer echten Lebensbotschaft, die auch für die Menschen von heute Relevanz hat“, sagt Propst Dietmar Röttger. Diese Lebensthemen einzubringen sei es, „was wir tun können und an verschiedenen Stellen tun. Die Freiheit der Menschen zu gehen, ist Teil dessen.“ Dass die Botschaft aber immer noch auch junge Menschen erreiche, zeige die Zahl der Firmungen, die im Pastoralen Raum an den vergangenen Wochenenden gefeiert wurde. Kirche sei keine „quasi halbstaatliche, unangefochtene Leitinstitution“ mehr, konstatiert Superintendent Schilling. „Im Anspruch sind wir bescheiden, aber im inhaltlichen Anspruch umso entschiedener.“

Der formale Akt des Austritts ist mit einigem Aufwand verbunden, und das gilt für den Noch-Katholiken oder Protestanten wie für die Mitarbeiter im Soester Amtsgericht. So gilt es nach wie vor, einen Termin zu vereinbaren. Derzeit sind die Kontingente bis Ende Oktober ausgebucht. Sieben bis acht Austritte bearbeiten die Mitarbeiter pro Tag. Natürlich binde des Personal, sagt Amtsgerichts-Vize Bellinghoff: „Wir gehen nicht wegen der Kirchenaustritte völlig unter. Aber es kommt eins zum anderen.“ Und wie in allen Branchen sei Verstärkung zurzeit einfach schwer zu kriegen.

Auch interessant

Kommentare