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Chef der Arbeitsagentur: „Wir werden den Wohlstand mit weniger Menschen bewahren müssen“

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Von: Achim Kienbaum

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Interview mit Oliver Schmale von der Soester Arbeitsagentur zum Fachkräftemangel
Oliver Schmale sieht, dass auch die Wirtschaft im Kreis Soest um Fachkräfte kämpfen muss. © Peter Dahm

Mehr als die meisten anderen Faktoren, die heimischen Unternehmen Sorgen bereiten, ist es die oft vergebliche Suche nach neuen Mitarbeitern, die zu großen Problemen führt. Fast vergessen scheinen die Zeiten, in denen die Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit vor allem händeringend offene Stellen für ihre arbeitslosen Kunden suchen mussten. Mit dem Chef der Soester Agentur, Oliver Schmale, sprach Achim Kienbaum über den Ernst der Lage – und was Betriebe dagegen tun können.

Kreis Soest – Der Laie wundert sich: Es scheint so gut wie keine Branchen mehr zu geben, in denen nicht händeringend Mitarbeiter gesucht werden. Reibt sich auch ein Fachmann wie Sie die Augen und fragt sich: Wo sind eigentlich die ganzen Menschen geblieben?

Na ja, wo die Menschen geblieben sind, darauf gibt es schon Antworten. Vor allem scheiden mehr Beschäftigte aus dem Arbeitsleben aus als neu hineinkommen. Das hat natürlich die bekannten demographischen Gründe, nämlich dass die geburtenstarken Jahrgänge sich in den Ruhestand verabschieden, während zahlenmäßig deutlich schwächere Jahrgänge von den Schulen und Hochschulen auf den Arbeitsmarkt drängen.

Mit anderen Worten: Die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter sinkt – auch im Kreis Soest. Und das war nun wirklich schon seit längerer Zeit abzusehen.

Die Analyse ist aber natürlich richtig, dass der Mangel an Fachkräften inzwischen in allen Bereichen des Arbeitsmarktes angekommen ist.

„Es liegt nicht an der Bezahlung“

Über welche Branchen reden wir da?

Bedarfe gibt es wie gesagt in allen Branchen, wenn auch sicher in Abstufungen. Das geht von Pflege, Gesundheit und Erziehung über die Gartenbauberufe bis zur fertigenden Industrie, einschließlich metallverarbeitenden und -bearbeitenden Betrieben, die hier in Südwestfalen und eben auch im Kreis Soest mit rund 40 Prozent aller Beschäftigten besonders stark vertreten ist und die es traditionell schwer hat, sowohl qualifizierte Mitarbeiter als auch Helfer zu finden.

Weil die Bezahlung schlecht ist und sie woanders mehr verdienen können?

Das sehe ich nicht so, schließlich werden in den fertigenden Betrieben auch die unqualifizierten Helfer deutlich über Tarif und deutlich über Mindestlohn bezahlt. Das bedeutet aber, dass es für manche Helfer Gründe gibt, sich nicht mit voller Überzeugung um eine Qualifizierung zu bemühen – was die Fachkräftelücke nicht kleiner macht.

Gibt es Branchen, die weniger hart um neue Mitarbeiter kämpfen müssen als andere?

Es gab zwar während der Pandemie eine Verlagerung, zum Beispiel weg von der Gastronomie hin in andere Branchen, weil die in der Zeit weniger dramatisch von den Folgen der Kontaktbeschränkungen betroffen waren. Aber inzwischen sind viele der ehemaligen Mitarbeiter auch wieder zurück gegangen, da gibt es also einen Ausgleich. Was freilich nicht dazu geführt hat, dass in der Gastronomie jetzt keine Kräfte mehr fehlen würden. Sorgenlos kann sicher keine Branche sein.

Das muss nicht unbedingt soweit gehen, dass gar nichts mehr geht, aber es kann sehr wohl passieren, dass es zumindest länger dauern wird, bis offene Stellen besetzt werden können. Und das gilt sowohl für Fachkräfte als auch für Helfer.

Viele offene Stellen im Januar

Der Arbeitsmarktbericht für den Kreis Soest nennt für den Januar 2023 insgesamt 3074 gemeldete offene Stellen, alleine im Verlaufe des ersten Monats im neuen Jahr meldeten Arbeitgeber 457 unbesetzte Stellen. Dem gegenüber standen allerdings 9 090 als arbeitslos gemeldete Menschen im Kreisgebiet – ein Anstieg von 536 im Vergleich zum Monat zuvor.

Den mit Abstand größten Anteil an den unbesetzten Stellen im Kreisgebiet gibt es bei Dienstleistern mit 1308, gefolgt vom verarbeitenden Gewerbe mit 453 Jobangeboten. Ebenfalls prominent vertreten in dieser Statistik ist der Kfz-Bereich mit Handel und Reparatur: Betriebe aus dieser Branche haben im Januar insgesamt 258 offene Stellen gemeldet. Noch ein wenig stärker fällt der aktuelle Bedarf bei den Gesundheitsberufen im Kreis Soest mit 275 Stellenangeboten aus.

Wenn es nun mal einfach weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter gibt, kann man die ja schlecht herbeizaubern. Was gibt es dann aber an Möglichkeiten?

Auf den ersten Blick ist da sicher vor allem die Zuwanderung ein Instrument, also das Rekrutieren von Fachkräften im Ausland. Es gibt aber Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit, dass 400 000 Zuwanderer nötig wären, um den Mangel an Arbeitskräften in Deutschland auszugleichen. Pro Jahr. Ich sehe allerdings, dass man sich um den dafür nötigen gesellschaftlichen Konsens in diesem Land noch sehr bemühen muss.

Es kommt hinzu, dass wir insgesamt beim Werben um Fachkräfte aus dem Ausland natürlich auch im Wettbewerb mit vielen anderen Ländern stehen, die ähnliche Bedarfe haben wie wir. Betriebe müssen sich daher besonders intensiv mit neuen Mitarbeitern und deren Bedürfnissen beschäftigen, wenn sie im Ausland auf Mitarbeitersuche gehen.

„Es geht um Wertschätzung“

Was meinen Sie in dem Zusammenhang mit „besonders intensiv kümmern“?

Wenn ich mit dem Gedanken spiele, im Ausland nach neuen Mitarbeitern zu suchen, muss ich das noch besser überlegen und vorbereiten, als wenn ich im Inland suchen würde. Ich muss noch mehr auf die Menschen zugehen, sie für mich und mein Unternehmen gewinnen.

Ich meine damit vor allem Wertschätzung, auch für das Leben der potenziellen neuen Mitarbeiter außerhalb der Arbeitszeit. Ich hole Menschen ins Land, nicht nur Arbeitskräfte. Wenn das nachhaltig gelingen soll, muss ich mich auch so gut es geht darum kümmern, dass es ihnen in diesem für sie fremden Land gut geht. Das hört nicht mit ihrer Ankunft auf, sondern beginnt dann erst so richtig.

Schließlich funktioniert menschliches Zusammenleben ja auch so, dass wir uns umeinander kümmern und einander wertschätzen. Da macht die Arbeitswelt keine Ausnahme. Wie und wo lebst du hier? Wie geht es deiner Familie und willst du sie mitbringen? Wo findest du hier Anschluss und soziale Kontakte in der Zeit nach deinem Feierabend? All das sind Fragen, auf die es Antworten zu finden gilt.

Und vielleicht täte es in manchen Fällen auch mal ganz gut sich darauf einzulassen, dass Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, ohne sich mit Haut und Haar ihrer neuen Heimat und der Arbeitsstelle hier auf ewig zu verschreiben.

Es ist ja nichts Verwerfliches daran, nach einigen Jahren wieder in die Heimat zurückzukehren und dort mit den erworbenen Kompetenzen die Entwicklung des Heimatlandes zu unterstützen.

„Digitalisierung ist eine Chance“

Wenn es also die Zuwanderung alleine nicht wird richten können, was bleibt da noch an wirksamen Waffen im Kampf gegen den Fachkräftemangel?

Wir werden uns sicher darum bemühen müssen, mit weniger Arbeitskräften den Wohlstand zumindest weitgehend zu bewahren, den wir uns als Gesellschaft über viele Jahrzehnte hinweg gemeinsam erarbeitet haben. Wir werden dann aber auch sehen müssen, ob wir unsere Lebensqualität ausschließlich oder weitgehend in Geld messen und am Bruttosozialprodukt festmachen oder vielleicht vermehrt ja auch an anderen Dingen.

Ich persönlich wäre natürlich froh, wenn wir es schaffen, ein faires und vernünftiges Gleichgewicht von Arbeit und Entlohnung zu bewahren.

Eine große Chance dazu bieten meiner Meinung nach auch die Digitalisierung und Automation der Arbeitswelt. Das haben wir in der Vergangenheit nicht immer nur als Chance, sondern manchmal auch als Risiko empfunden. Beides kann aber hilfreich sein und sollte nicht als Bedrohung für den eigenen Arbeitsplatz gesehen werden, sondern als willkommene Erleichterung der Arbeit da, wo es nötig und sinnvoll sein kann.

Und was können Betriebe jetzt schon tun, um im Wettbewerb um neue Mitarbeiter gegen Konkurrenten in ihrer Branche zu bestehen – natürlich abgesehen davon, ihre offenen Stellen bei der Arbeitsagentur zu melden?

Eine Möglichkeit sind die ganz klassischen Mittel der flexiblen Arbeitszeitgestaltung, die für potenzielle Bewerber großen Stellenwert haben können. Das wird in manchen Betrieben, zum Beispiel die mit einem Schichtsystem, nur schwer oder gar nicht auf individuelle Wünsche einstellbar sein, aber in vielen anderen Unternehmen gibt es da Potenziale. Familienorientiertes Organisieren von Arbeit ist ein großes Thema in der Wirtschaft.

Da ist auch viel in Bewegung, schon vor der Pandemie war das so. Das hat zum Beispiel dazu beigetragen, dass viele Frauen zurück in eine Beschäftigung gegangen sind.

Wir haben aber, so ehrlich muss man sein, nicht mehr die großen Hebel, um Menschen aus der so genannten stillen Reserve für den Arbeitsmarkt zu aktivieren – also Menschen, die zumindest eine Zeit lang gar nicht mehr erwerbstätig waren.

„Qualifizierung bleibt wichtig“

Da sind wir bei dem, was die Arbeitsagentur im Kampf gegen den Fachkräftemangel leisten kann...

Für uns steht nach wie vor das Thema Qualifizierung ganz weit oben. Und natürlich müssen wir uns nach der Pandemie auch wieder so intensiv wie möglich um die Jugendlichen kümmern.

Die haben jetzt nach der Pandemie mehr Probleme und mehr Hemmschwellen auf dem Weg von der Schule in die Arbeitswelt als vorher. Da gibt es nach Corona verständlicherweise einiges aufzuholen. Beim Bemühen um diese jungen Menschen werden wir auch weiterhin eng mit den Eltern und Betrieben zusammenarbeiten.

„Wir können uns noch glücklich schätzen“

Gibt es Besonderheiten auf dem heimischen Arbeitsmarkt im Kreis Soest in Sachen Fachkräfte?

Im Vergleich zu vielen anderen Regionen, ich denke da zum Beispiel an das Ruhrgebiet mit seinem Strukturwandel hin zum Dienstleistungsstandort, können wir uns glücklich schätzen, so einen großen Anteil an mittelständischen, produzierenden Betrieben zu haben. Das hat sich gerade in der Pandemie als ein wichtiger Standortvorteil erwiesen, weil gerade die kleineren Betriebe immer wieder für sie praktikable Mittel und Wege finden, um ihre Probleme zu lösen – auch beim Thema Fachkräfte.

Allerdings gibt es auch bei uns die Dynamik, dass der Anteil und die Bedeutung von Dienstleistern wächst.

Und wie sieht es bei der Soester Arbeitsagentur mit den Fachkräften aus? Stapeln sich die Bewerbungen bei Ihnen oder ist auch die Arbeitsvermittlung eine Branche, die nicht mehr ganz so sexy ist wie früher?

Wir haben es auch schwieriger als früher. Das hat unter anderem damit zu tun, dass wir unsere Position nicht ausnutzen – also gerade bei der Berufsberatung nicht junge Leute einseitig für uns selber zu begeistern versuchen. Stattdessen stehen Eignung und Neigung der Jugendlichen bei der Beratung und Vermittlung im Mittelpunkt. Die Bewerbungen bei uns werden weniger, wir können aber mit intensiver Werbung für uns noch ganz gut gegensteuern. Die Zahlen zum Ausbildungsmarkt, die wir veröffentlichen, lesen wir auch für unsere eigenen Zwecke, werten sie aus und handeln danach bei unserer eigenen Rekrutierung.

Wir sehen aber auch, dass Zusagen von Bewerbern, wie in anderen Branchen auch, nicht automatisch auch heißen, dass sie dann tatsächlich bei uns anfangen. Die jungen Leute suchen weiter und entscheiden sich immer wieder dann auch noch einmal um. Bislang kommen wir aber noch ganz gut klar. Und aktuell steigen die Bewerberzahlen auch wieder an.

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