Gibt es einen äußeren Anlass oder wie sind Sie zu diesem überaus schwierigen Thema gekommen?
Anlass war, dass es zu dem Thema bezüglich Soest vor drei Jahren noch gar nichts gab. Die Anregung kam eigentlich von Herrn Kükenshöner. Er fragte mich, ob ich mir eine gründliche Beschäftigung mit dem Thema vorstellen könnte. Ich war damals nach dem Abschluss eines größeren Projektes gerade „frei“ und hatte Lust. Dies lag auch daran, dass es in meiner Familiengeschichte ebenfalls ein Opfer der Zwangssterilisierung gab, dessen Geschichte ich schon lange aufarbeiten wollte. Die Betroffene ist aber nicht aus Soest, sondern dem Raum Bielefeld. Dies habe ich parallel zu meinen Recherchen über Soest erledigt.
Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen?
Es gibt ja für den Historiker nur einen Weg: über die Archive. Man weiß aus Kenntnis der Sekundärliteratur, welche Behörden involviert waren, und schaut in den entsprechenden Archiven, was die überlieferten Bestände so hergeben: In diesem Falle waren das zunächst vor allem das Staatsarchiv in Münster, das die Akten der Erbgesundheitsgerichte hat, und das Archiv des LWL in Münster, wo ich in Deportationslisten der Euthanasieopfer sowie Patientenakten der Provinzialheilanstalten geforscht habe. Daraus ergibt sich dann alles Weitere. Die Archive vor Ort gaben nur relativ wenig her.
Sind Sie auch heute noch auf Ressentiments gestoßen oder ist man Ihnen überall freundlich mit Informationen entgegengekommen?
In den Archiven keine Ressentiments, warum auch? Eher Vorsicht, wer da denn Einblick in diese doch sehr speziellen, um nicht zu sagen intimen Akten nehmen möchte. Die Zahl der juristischen Verpflichtungserklärungen, die man unterschreiben muss, wächst gefühlt von Jahr zu Jahr. Das Thema Daten- und Opferschutz ist ja groß wie nie! Kontakt zu Nachfahren habe ich nicht gesucht, weil ich bei dieser Art von „Oral History“ in den vergangenen Jahrzehnten eher negative Erfahrungen gemacht habe: Sehr viel Aufwand, wenig Ertrag!
Andernorts wird recherchiert, um Opfern zumindest ihren Namen wiederzugeben. Warum werden in diesem Vortrag alle Opfernamen anonymisiert?
Ich halte gar nichts von der Selbstermächtigung etlicher Historiker, die in aufklärerischer Attitüde glauben, irgendwem irgendwas durch die Nennung von Namen zurückgeben zu können. Ich denke, man muss gerade bei örtlich begrenzten Projekten die Nachfahren schon fragen. Dies ist in speziellen Fällen ja auch möglich, etwa bei Maria Viegener, aber nicht bei größeren Opfergruppen. Das wären ja Hunderte von Nachfahren. Die Frage der Namensnennung ist ja im Übrigen auch juristisch nicht unumstritten. Vor allem, wenn man wie ich ja bei der Nennung von Namen nicht Halt macht, sondern Familien- und Krankengeschichten erzählt.
Wir kennen den Fall der Maria Viegener, der Schwester der Viegener-Brüder, die in Eichberg/Hessen zu Tode kam. In den Berichten heißt es, dass sich ihre Mutter für sie eingesetzt habe, von den drei bekannten, ja berühmten Brüdern ist nie die Rede. Wissen Sie, warum nicht?
Dazu kann ich auch nichts Gescheites beitragen.
In der Ankündigung zu Ihrem Vortrag ist von mehr als 100 Menschen die Rede, die in Soest betroffen waren. Wissen Sie, wie die Nachfahren mit diesen Informationen heute umgehen?
Nein, das weiß ich nicht, zumal ich ja den Kontakt nicht gesucht habe. Ich denke aber, vorherrschend ist bei den allermeisten - mittlerweile ist es ja vielfach die Enkelgeneration - ein sehr schemenhaftes Wissen oder Halbwissen über diese dunklen Kapitel der Familiengeschichte. So war es im Übrigen ja auch bei der Familie Stelbrink, bis ich anfing, über meine Tante zu recherchieren.
Und wie geht es Ihnen selbst angesichts dieser belastenden Kenntnisse und der Zeugnisse eines erschütternden Menschenhasses? Auch Sie als neutralen Wissenschaftler kann sie das ja kaum kalt lassen?
Offen gestanden kann ich das ganz gut abkapseln. Es belastet mich nicht. Sie können es vielleicht vergleichen mit Chirurgen, die zum Beispiel lebensgefährlich erkrankte Kinder auf dem OP-Tisch haben. Sie können sich keine Gefühle leisten und sie können es auch abends nicht mit nach Hause nehmen. Emotional angefasst war ich allerdings in der Tat bei den Akten über meine Tante, obwohl ich sie niemals kennengelernt habe. Besonders, weil es – wie ich nun weiß -– mein Opa war, der sie 1935 ans Messer geliefert hat.
Dr. Wolfgang Stelbrink hält den Vortrag am Dienstag, 25. Oktober, um 19.30 Uhr im Vortragsraum des Bunkers am Lütgen Grandweg/Thomästraße. Der Vortragsraum liegt im zweiten Obergeschoss. Es ist aber ein Aufzug vorhanden.
In der Ausgabe September 2013 des Heftes „Heimatpflege“ berichtet Joseph Kleine über das Schicksal der Fotografin Maria Viegener, Schwester der bekannten Gebrüder Viegener: „Das NS-Regime erklärte 1933 den Rassegedanken zum Leitmotiv seiner Gesundheits- und Bevölkerungspolitik. Eine erbgesunde ‚arische’ Rasse sollte geschaffen und das Volk von ,Ballastexistenzen‘ befreit werden.“ Zudem wird aufgelistet: „45 Prozent der reichsdeutschen Ärzte waren Mitglieder der NSDAP, 25 Prozent waren in der SA und 7 Prozent in der SS.“