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Flüchtlinge 1. und 2. Klasse? „Das Herkunftsland spielt eine Rolle“

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Von: Achim Kienbaum

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Reza Hussein betreut Flüchtlinge in ZUE
Er floh selber vor dem Krieg in seiner Heimat: Heute ist Reza Hussein längst heimisch geworden in Deutschland und engagiert sich ehrenamtlich für Flüchtlinge. © Kienbaum

Dr. Reza Hussein hat in den vergangenen Monaten Flüchtlinge in der Soester Landesunterkunft betreut - bis die ziemlich überstürzt Platz machen mussten für Schutzsuchende aus der Ukraine. Im Gespräch mit Achim Kienbaum kritisiert Hussein dieses Vorgehen und beschreibt die Folgen für die Menschen, die innerhalb von zwei Tagen aufs ganze Land verteilt wurden.

Soest – Dr. Reza Hussein weiß was es heißt, vor Krieg und Gewalt zu flüchten und alles zurücklassen zu müssen. Er weiß aber auch was es heißt, in einer neuen Heimat anzukommen und sich dort ein neues Leben aufzubauen. 1985 floh er, gerade 15 Jahre alt, mit seiner Familie vor dem Krieg in Afghanistan nach Deutschland. Er machte sein Abitur, studierte Elektrotechnik und arbeitete anschließend für mehrere internationale Unternehmen unter anderem in Japan und Malaysia. Seit 2017 arbeitet er für das IT-Unternehmen Infineon als Leiter der Qualitätskontrolle am Standort Belecke. Er lebt mit seiner Frau und einer Tochter in Soest und ist hier unter anderem Mitglied des Integrationsrates.

Sie engagieren sich seit vielen Jahren für die Betreuung und Integration von Menschen, die in Deutschland Asyl suchen. Was motiviert Sie für diese Arbeit?

Ich habe selbst einen Migrationshintergrund und kann durch meine Erfahrung den anderen Menschen helfen. Vor genau 37 Jahren musste meine Familie Afghanistan wegen der russischen Invasion verlassen und Zuflucht in Deutschland suchen. Genau wie jetzt der Krieg in der Ukraine.

Das Asyl-Verfahren hat sich seitdem kaum geändert. Man muss verschiedene Stationen durchlaufen und viele Herausforderungen bewältigen, bis man in der zugewiesenen Stadt „ankommt“. Deshalb möchte ich gerne den Asyl-Suchenden aus eigener Erfahrung helfen.

Die Aufnahme von Menschen aus der Ukraine beherrscht seit einigen Wochen nicht nur die Schlagzeilen, sondern erfordert auch große Anstrengungen in den Verwaltungen und dazu ehrenamtliche Unterstützung. Unter anderem wurde in Soest die ZUE des Landes innerhalb kürzester Zeit fast komplett geräumt. Die bislang dort untergebrachten Menschen mussten dafür weichen. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?

Ich bin seit Anfang September 2021 in der Soester ZUE ehrenamtlich tätig und arbeite dort mit der Leitung zusammen, um den Bewohnern zu helfen. Rund 900 Personen, davon etwa 200 evakuierte Ortskräfte aus Kabul, waren in der Einrichtung untergebracht.

Viele Menschen waren relativ lange in der Einrichtung, zum Beispiel die Afghanen, die seit sieben Monaten dort lebten und sich inzwischen wie zu Hause fühlten.

Es gab immer wieder Anfragen von Bewohnern, wann und wohin sie zugewiesen werden würden. Leider gab es dazu von der Bezirksregierung Arnsberg immer wieder die Antwort, man solle sich bitte gedulden, es würde dauert. Es hieß, es gebe keine Möglichkeit, die Menschen zu verteilen.

Anfang März wurden plötzlich alle Bewohner informiert, dass sie innerhalb der nächsten Stunden, spätestens ein bis zwei Tage, in NRW verteilt werden müssten, da die ZUE für ukrainische Schutzsuchende benötigt werde.

Niemand wusste wohin. Es gab auch einige Fälle von Familien, die voneinander getrennt wurden und in unterschiedliche Städte gebracht wurden. Ich war selbst am Sonntag, 6. März, Zeuge, wie Familien mit Kindern zu den Bussen rannten, da sie erst 30 Minuten zuvor erfahren hatten, dass sie weggebracht werden würden und alles zusammenpacken müssten. Die Leute hatten Angst und Panik. Ich finde die sofortige Evakuierung der ZUE innerhalb von so kurzer Zeit nicht in Ordnung.

Diese Menschen brauchten nach so langem Aufenthalt Zeit für die Vorbereitung. Das Schlimmste war, dass die Menschen bis zur Abfahrt der Busse nicht wussten, wohin sie gebracht werden. Ein Kind fragte mich, ob sie wieder nach Irak gebracht werden würden.

Die Art und Weise, wie die ZUE evakuiert wurde, ist sehr enttäuschend, und ich verurteile wie man hier mit den Menschen umgegangen ist.

Sie haben einen teilweise sehr intensiven und vertrauensvollen Umgang mit geflüchteten Menschen. Wie reagieren die auf die aktuellen Entwicklungen?

Sie reagieren sehr besorgt. Da sie selber aus Kriegs- und Krisen-Ländern kommen, sind alle sehr traurig über das Leid der ukrainischen Schutzsuchenden. Als sie erfahren haben, dass die ZUE für Flüchtlinge aus der Ukraine vorbereitet wird, haben viele angeboten, einen Teil ihrer Sachen wie Fahrräder oder Kinderwagen zurück zu lassen. Alle haben sich bereit erklärt, zu helfen.

Es gibt Stimmen, die von Flüchtlingen erster und zweiter Klasse sprechen. Gehört Ihre Stimme dazu?

Wie ich ja schon gesagt habe, finde ich die Art und Weise und den Umgang mit den Menschen nicht in Ordnung. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das Herkunftsland hier eine Rolle spielt.

Ich habe insgesamt fünf Personen aus drei verschiedenen Familien seit längerer Zeit ehrenamtlich betreut. Diese Menschen haben schwere Schicksale in ihren Heimatländern erlebt und sind traumatisiert.

Ich habe die Bezirksregierung Arnsberg gebeten, diese fünf Personen in Soest oder wenigstens im Kreis Soest zuzuweisen, damit ich ihnen weiterhin helfen und sie betreuen kann. Leider fand meine Bitte dort aber kein Gehör.

Wieso, glauben Sie, sind viele Menschen derzeit bereit, sogar eigenen Wohnraum für Kriegsflüchtlinge zur Verfügung zu stellen, die das zuvor für Menschen aus anderen Regionen dieser Welt nicht getan haben?

Ich bin wirklich sehr froh und dankbar, dass so viele Menschen bereit sind zu helfen und Schutzsuchende aufzunehmen.

Was in der Ukraine passiert und wie Putin Krieg führt, ist unmenschlich. Wenn man Kinder, Frauen, unschuldige Menschen tötet, dann ist das Barbarei und ein Kriegsverbrechen.

Die geschichte der ZUE in Soest

Die Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) am Hiddingser Weg ist eine Einrichtung des Landes. Das ehemalige Kasernengelände gehört dem Bund, lag aber seit dem Abzug der belgischen Streitkräfte mehr als 20 Jahre lang brach. 2017 begannen dann umfangreiche Sanierungsarbeiten an dem Komplex aus mehreren Blöcken, mit dem Ziel, dort zunächst bis zu 1500 Flüchtlinge unterzubringen und später dort günstigen Wohnraum zu schaffen.

Vor knapp einem Jahr zogen die ersten Bewohner ein, um dort auf ihre Zuweisung in Kommunen zu warten, wo sie bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens bleiben.

Am ersten Märzwochenende mussten rund 700 Menschen die ZUE innerhalb von zwei Tagen verlassen, nachdem die Einrichtung von der Bezirksregierung Arnsberg als zentrale Unterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine ausgewählt worden war.

Als die Taliban Kabul eingenommen haben und die Ortskräfte und andere gefährdete Menschen fliehen mussten, hieß es in Deutschland, „das Jahr 2015 soll sich nicht wiederholen“. Einige Bundesländer und einige EU-Länder haben das Statement gegeben, dass sie keine Afghanen aufnehmen möchten. Auch hier entsteht der Eindruck, dass das Herkunftsland eine große Rolle spielt.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, wie Menschen auf der Flucht vor Kriegen und Gewalt in ihrer Heimat in Deutschland aufgenommen werden sollten – wie sähe dieser Wunsch aus?

Zunächst ist mein Herzenswunsch, dass es keinen Krieg und keine Flucht gibt. Ich wünsche mir, dass alle Menschen, die dringend Schutz brauchen, ihn unabhängig von Hautfarbe, Kultur und Religion bekommen.

Die Aufenthalte in provisorischen Einrichtungen wie einer ZUE sollten kurz sein, damit die Kinder einen Zugang zu Schule und Bildung bekommen.

Natürlich benötigen die Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen, eine klare Kommunikation. Sie sollten nicht in Ungewissheit gelassen werden.

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