Gunnar Wolters ist beim Kreis Soest verantwortlich für den Nahverkehrsplan. Der aktuelle Plan für den Kreis Soest hat eine Gültigkeit von 2018 bis 2022, und er befasst sich in einem eigenen Kapitel mit der Barrierefreiheit. Lange hat sich die Verkehrsplanung bei der Definition weitgehend auf eine Nutzergruppe beschränkt. Das Prädikat „behindertengerecht“ war praktisch gleichbedeutend mit „rollstuhlgerecht“, mit einbezogen wurden gerade noch andere Arten der Gehbehinderung.
In ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkt sind aber zum Beispiel auch Blinde und Sehbehinderte, Gehörlose, Hochbetagte, greifbehinderte Personen und Menschen mit Konzentrations- und Orientierungsbeeinträchtigungen. Dazu kommen die, die vorübergehend eingeschränkt sind, und sei es nur, weil sie mit einem Kinderwagen im Bus mitfahren wollen.
Für sie alle ist „in der Konsequenz die Möglichkeit zur eigenständigen, selbstbestimmten, unabhängigen und sicheren Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit des ÖPNV zu gewährleisten“, heißt es im Nahverkehrsplan des Kreises. „Wir haben uns klar zu dem Ziel bekannt, die vollständige Barrierefreiheit zu erreichen“, sagt Gunnar Wolters.
Das ist gar nicht mal selbstverständlich, Gesetz hin oder her. Der WDR hat in einer Recherche Anfang November kommunale Spitzenverbände nach den Zielen des Personenbeförderungsgesetzes gefragt. Und dort erfahren: Man halte die Umsetzungsfrist 1. Januar eher für eine Empfehlung. Nachgehakt beim Bundesverkehrsministerium bestätigte das Haus, noch unter Leitung von Andreas Scheuer, diese Auffassung.
Dem Soester Meinolf Burghardt treibt das die Zornesröte ins Gesicht. „Wenn es schon im Gesetz steht, dann muss es auch umgesetzt werden! Wozu sonst der ganze Quatsch?“ Der 64-Jährige ist selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Seine Schilderungen des Alltags mit einem Elektro-Rolli gleichen Homers Odyssee – es ist eine Tortur. Nicht für alle Schwierigkeiten, die Burghardt in seinem (im-)mobilen Alltag begegnen, wäre die Umsetzung des Personenbeförderungsgesetzes die Lösung. Denn die Gültigkeit ist begrenzt auf das Bus-, Straßen- und U-Bahnnetz. Und, das muss auch Gunnar Wolters vom Kreis einräumen: Vollständig erreicht ist das Ziel mit Ablauf der Frist schon hier nicht, „so ehrlich muss man sein“. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe.
Einer ist der Zeitfaktor. „Wenn es um Infrastruktur geht, sind acht Jahre nicht viel“, gibt er zu bedenken, „wir sind weit gekommen, es ist aber noch einiges zu tun.“ Dass das Gesetz den Anspruch auf Vollständigkeit definiert, hält der Mobilitätsexperte für sinnvoll. „Das hat Dynamik reingebracht.“ Dann gibt es Hemmnisse, die wohl auch in Zukunft nicht zu beseitigen sein werden. Beispiel Bushaltestellen: Nicht jeder Haltepunkt lässt sich barrierefrei ausbauen.
Etwa 1350 Bushaltestellen gibt es im Kreis Soest, die Ausbauquote liegt bei etwa einem Drittel – und das ist schon ein guter Wert. „Die Kommunen achten darauf, zuerst die stark frequentierten Haltepunkte auszubauen“, sagt Wolters. Beispielhaft nennt er Soest, das schon viel erreicht habe (siehe Kasten). Doch gerade im ländlichen Bereich wird es auch weiterhin Stationen geben, die von so etwas wie „Barrierefreiheit“ weit entfernt bleiben. Oder, und auch das gibt Gunnar Wolters zu bedenken: Die Haltestelle selbst könnte barrierefrei sein, aber sie wird für jemanden mit eingeschränkter Mobilität nicht erreichbar sein, weil die Wege dorthin die Ansprüche nicht erfüllen.
Der Nahverkehrsplan kann für solche Fälle Ausnahmen definieren. Und Wolters macht klar, dass eben nicht immer der klassische Nahverkehr die richtige Lösung sein muss. „Dann müssen Alternativen her.“ Erprobt wird eine Alternative gerade in Anröchte, Erwitte und Bad Sassendorf mit dem Projekt „Helmo“. Das Hellweg Mobil fährt ohne festen Fahrplan und auf Abruf. „On Demand“ heißt das Prinzip neudeutsch.
Das Anruf-Sammel-Taxi in Soest ist ein weiteres Beispiel, seit 2017 ist dieses mobile Angebot barrierefrei. Caterina David ist Sprecherin der Behinderten-Arbeitsgemeinschaft im Kreis Soest (BAKS). Auch sie weiß um die Notwendigkeit alternativer Mobilitätsangebote. „Denn was nützt eine barrierefreie Haltestelle, wenn dort nur einmal täglich ein Bus fährt? Das ist auch eine Barriere.“ Dabei ist es eben gerade wichtig, Barrierefreiheit nicht nur in der Stadt zu denken, sondern auf den ländlichen Raum auszuweiten. „Es muss weiter daran gearbeitet werden, dass alle den ÖPNV als Ganzes nutzen können“, sagt Gunnar Wolters.
Die Verkehrsgemeinschaft Ruhr-Lippe (RLG) sieht sich in Sachen Barrierefreiheit weit vorangekommen. Alle Busse seien mit einer Niederflur-Ausstattung unterwegs, sagt RLG-Sprecherin Annette Zurmühl. Anzeigen und Ansagen sind an Bord. Die Barrierefreiheit erstrecke sich nicht auf Elektro-Scooter, erklärt Zurmühl. „Das hat einen Grund: Sie lassen sich nicht auf der Stelle wenden.“ Medizinische Elektrorollstühle hingegen würden selbstverständlich mitgenommen.
Andere Regeln gelten für das, was auf der Schiene fährt: „Das PBefG ist nicht für Eisenbahnen gültig. Wir erbringen unsere Leistungen nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG)“, sagt Nicole Pizzuti, Sprecherin der Eurobahn. Barrierefreiheit freilich habe sich die Eurobahn gleichwohl auf die Fahnen geschrieben, „Wir bewegen Menschen. Und das ohne Einschränkung“ heißt es dazu auf der Website des Unternehmens. Potenziellen Fahrgästen mit eingeschränkter Mobilität empfiehlt die Eurobahn ein paar Sätze später: „Bevor wir Sie auf einer Fahrt mit der Eurobahn begrüßen dürfen, melden Sie bitte Ihren Fahrtwunsch frühzeitig (bestenfalls 48 Stunden vor Antritt der Fahrt) an, um einen reibungslosen Ablauf garantieren zu können.“ Auch die Deutsche Bahn empfiehlt die Anmeldung. Nach selbstbestimmter, uneingeschränkter Fortbewegung klingt das zugegeben nicht.
Meinolf Burghardt kennt die Tücken des Bahnfahrens zur Genüge. Zugtüren, die zu schmal sind für einen Rollstuhl (gilt für ICE mit Ausnahme der vierten Generation), von Bahnsteigen, die gar nicht erst erreichbar sind, weil womöglich der Aufzug nicht funktioniert. „Natürlich muss Infrastruktur nicht nur bereitgestellt werden; wir müssen sie auch bereit halten“, sagt Gunnar Wolters dazu. Einfluss auf den Ausbau von Bahnhöfen hat der Kreis nicht direkt. „Der Verband Nahverkehr Westfalen-Lippe treibt den Ausbau voran“, zuständig für die Umsetzung ist die Bahn als Eigentümerin der Haltepunkte. Mittlerweile seien mehr als 75 Prozent der Bahnhöfe deutschlandweit barrierefrei, sagt ein Bahnsprecher.
Eine Zahl, die Meinolf Burghardt mit den Schultern zucken lässt. Eine Rampe bereitzustellen sei das eine, sagt er, „und wenn ich spätabends auf dem Bahnsteig jemanden brauche, der sie bedienen kann? Wer fühlt sich zuständig, wenn der Aufzug, und sei es aufgrund von Vandalismus, mal wieder außer Betrieb ist? Wer greift ein, wenn ein Busfahrer oder Zugführer vorgibt, den Rollifahrer nicht zu sehen, weil es dauert, bis der eingestiegen ist, und dann kann er den Fahrplan nicht einhalten?“ Mit der Infrastruktur allein lässt sich Barrierefreiheit eben nicht erreichen.
Soest führt seit 2016 ein Haltestellenkataster für das Stadtgebiet, das neben dem Zustand der Barrierefreiheit auch weitere Merkmale wie Ein- und Aussteigerzahlen, Wartehallen und Fahrradstellplätze erfasst. Das erläutert Verkehrsplaner Axel Beyer. Die Stadt habe mit den Kommunalen Betrieben (KBS) schon während der Erstellung des Verkehrsentwicklungsplans (VEP) mit dem barrierefreien Ausbau der Haltestellen begonnen und seit 2015 jährlich Förderanträge gestellt. „Von den rund 230 im Taktverkehr bedienten Haltepunkten in Soest waren 2015 18 Prozent barrierefrei (taktiles Leitsystem, niveaugleicher Einstieg) ausgebaut.“ 2021 sind es 54 Prozent. Auch für die nächsten Jahre seien Förderanträge beim Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) gestellt oder in Vorbereitung. Der Ausbau orientiere sich nicht an einer Quote, sondern die Anzahl sei abhängig vom Aufwand des Ausbaus an den Haltestellen. „Priorisiert wird der Ausbau danach, ob im Umfeld einer Haltestelle Einrichtungen mit besonders hoher Frequenz von Menschen mit einer Behinderung vorliegen, außerdem vom allgemeinen Fahrgastaufkommen und einem effizienten Bauablauf.“ Das direkte Haltestellenumfeld werde beim Ausbau mitbetrachtet. So wurde zum Beispiel am Marienkrankenhaus die Querungshilfe (Mittelinsel) barrierefrei hergestellt. Zudem werde das Thema Barrierefreiheit bei allen Straßenausbaumaßnahmen berücksichtigt. Wartehallen und Fahrradabstellanlagen werden mit beantragt. Haltestellen, die nur im Schülerverkehr bedient werden, können nicht mit den Fördermitteln des NWL ausgebaut werden. Die Priorität an diesen Haltestellen sei aber grundsätzlich aufgrund des geringen Fahrgastaufkommens gering.
Ein Projekt, das sich mit der Barrierefreiheit in der Zukunft befasst hat, ist in Soest nach einem halben Jahr Mitte Dezember zu Ende gegangen: Der autonome Bus „Sofia“ war zwischen LWL-Berufsbildungszentrum und Bahnhof unterwegs.