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Alltag in der Ukraine: „Wir arbeiten unter allen Umständen“

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Von: Kathrin Bastert

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Die Soester Unternehmerin Irina Dongash ist im engen Kontakt mit ihrem Geschäftspartner Valentin und Laborantin Anna.
Die Soester Unternehmerin Irina Dongash ist im engen Kontakt mit ihrem Geschäftspartner Valentin und Laborantin Anna. © Kathrin Bastert

Das Soester Unternehmen „FoodenergyX“ importiert Lebens- und Futtermittel aus der Ukraine. Ihr Geschäftspartner Valentin berichtet von seinem Arbeitsalltag zwischen Krieg und Zerstörung.

Soest – Irina und Viktor Dongash treiben seit 2009 Handel mit der Ukraine und Russland, Kasachstan, Usbekistan. Von dort importiert das Ehepaar für sein Unternehmen „FoodenergyX“ Lebens- und Futtermittel. Es gibt viel zu tun, vor allem viel zu organisieren in diesen Tagen. Hier steckt ein Lkw an der Grenze fest, weil kein „EU1“-Formular zu bekommen ist. Dort bangen die Händler um den Grenzübertritt eines weiteren Lkw nach Weißrussland.

Nicht überall in der Ukraine sind die Auswirkungen des Krieges so greifbar wie in den großen Städten, wie in Kiew oder Charkiw. Dass dort Raketen einschlagen, ist täglich im Fernsehen zu sehen. „Darüber reden alle“, sagt Irina Dongash, „über die kleinen Dörfer redet niemand.“ Dabei könne man sich wohl vorstellen, dass landwirtschaftliche Gerätschaften nicht zu ihrem Einsatzort kommen können, wenn Straßen zerstört wurden. Dass Raketenteile auf Feldern landen, „ein Haufen Schrott“, die dann nicht mehr beackert werden können. Lieferketten funktionieren nicht, es fehlt Saatgut, Dünger – vielleicht auch nur derjenige, der es verkauft. Weil er geflohen ist. Oder sein Geschäft zerstört.

Alltag in der Ukraine: Kaputte Infrastruktur, doch die Bürokratie schert der Krieg wenig

Mit Zerstörung kennt sich Valentin, 62, gut aus. Viel zu gut, denn um ihn herum in Charkiw ist die Zerstörung riesig. Er schläft nie zwei Nächte am gleichen Ort, er beobachtet genau, in welche Richtung sich die ukrainischen Truppen bewegen – und sucht Unterschlupf in der anderen Richtung. Auch mit diesen Dingen kennt er sich aus, denn einst war er selbst Offizier der sowjetischen Armee. Nun versucht der Honig-Exporteur, von seinem Betrieb zu retten, was zu retten ist. Fünf Leute sind ihm geblieben. Mitarbeiter, die aus den unterschiedlichsten Gründen das Land nicht verlassen wollen oder können. Da ist Galina, die Buchhalterin, die ihren Sohn und ihren Mann nicht zurücklassen will. Anna, die Laborantin, pflegt ihre kranke Mutter, ihr kleiner Sohn ist in Sicherheit, er lebt jetzt in Soest.

Irina Dongash hält engen Kontakt mit ihrem Geschäftspartner Valentin. Am Morgen erreicht sie ihn im Büro. Seit vier Wochen sei er im Stress, sagt Valentin. Erst hat er sich darum gekümmert, dass die Familien seiner Mitarbeiter außer Landes kommen. Die deutschen Partner haben geholfen, die Dongashs haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, „unsere Bauernfamilien hier haben uns so unterstützt“, sagt Irina Dongash, „und auch einige unserer Kunden.“ In Charkiw steht Valentin jeden Morgen um 4 Uhr auf, um 6 kann er raus, dann endet die Ausgangssperre. Dann fährt er los, sammelt seine Mitarbeiter ein. Er will seine Verträge erfüllen, will nicht mit den Lieferungen in Verzug kommen. Seine letzten verbliebenen Fahrer will Valentin nicht in Gefahr bringen, deshalb setzt er sich selbst hinters Steuer eines Lkw und fährt jede Woche die 130 Kilometer bis Poltawa. Die Infrastruktur ist kaputt, jeder Export ist ein wahrer Kampf, denn die Bürokratie schert der Krieg wenig. Valentin muss seitenweise Papiere ausfüllen, es dauert lange, bis er alles zusammen hat.

Alltag in der Ukraine: Wut ist der Antrieb

Was ihn antreibt? „Wut“, sagt er, und es ist doch viel mehr als das. „Er ist der Chef, an ihm halten sich alle fest“, sagt Irina Dongash. Er zahlt die Gehälter weiter, teils mit Bargeld, das seine Soester Geschäftsfreunde in Deutschland zusammensammeln. Viele, die nach Deutschland geflohen sind, haben Bargeld in der ukrainischen Währung „Hrywnja“ dabei, das sie hier nicht tauschen können. In Charkiw fährt Valentin seine Rentner ab, bringt ihnen eine Wochenration Lebensmittel. Die öffentlichen Stellen seien viel schwerfälliger als die privaten Initiativen, sagt der Exporteur, täglich sieht er lange Schlangen, wo die Menschen um Lebensmittel anstehen. Immer öfter gibt es Probleme mit der Strom- und Wasserversorgung. In seiner Lagerhalle hat eine Druckwelle die Fenster zerbersten lassen. Laborantin Anna bemüht sich täglich, ihre Analysen schnell zu erledigen, möglichst innerhalb eines Tages. „Jetzt ist es Gewohnheit“, sagt Valentin, „und das macht die Ukrainer aus: Sie arbeiten unter allen Umständen.“

Valentin will auch seine Imker nicht im Stich lassen. Was sollen sie tun, wenn er ihnen den Honig nicht abnimmt? Bald beginnt die Saison, 15 000 Tonnen ukrainischen Honigs werden jedes Jahr nach Deutschland exportiert. Wie wird es in diesem Jahr sein, wo können die Bienenstöcke aufgestellt werden? Werden genug Blüten da sein? Alles hängt mit allem zusammen, das wird hier deutlich. Wenn die Landwirte in der Ukraine keinen Raps und Sonnenblumen aussäen, dann wird bald in den Regalen nicht nur das Öl fehlen, sondern auch der Honig. Große Sorgen macht sich der Exporteur wegen fehlender Lebensmittelfässer. Die Stadt, in der sein Lieferant fertigt, ist inzwischen von den Russen okkupiert. Er versucht, an gebrauchte Fässer zu kommen, auch Irina tut in Deutschland alles, um die Behälter zu organisieren. Es muss weitergehen, dafür wollen Irina in Deutschland und Valentin in der Ukraine alles tun. „Aber wenn Putin kommt, dann bin ich weg“, sagt Valentin. Dann beendet er das Gespräch. Er hat viel zu tun.

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