Allerdings sei es eben so, dass die Politik die Pandemie in die Eigenverantwortung der Menschen gegeben habe, sagt die Behördenchefin. In der aktuellen Coronaschutzverordnung des Landes ist das so formuliert (§2 Abs. 1): „Jede in die Grundregeln des Infektionsschutzes einsichtsfähige Person ist angehalten, sich so zu verhalten, dass sie sich und andere keinen unangemessenen Infektionsgefahren aussetzt. Hierzu sollen die allgemeinen Verhaltensregeln zu Abstand, Hygiene und Masken (sogenannte AHA-Regeln) in allen Lebensbereichen angemessen eigenverantwortlich und solidarisch beachtet werden.“
Nun ist die Amtsärztin nicht so naiv zu glauben, dass der größte Teil der Kirmesbesucher Abstand halten, geschweige denn Maske tragen wird: „Wir werden also einen weiteren Anstieg der Fallzahlen vermerken.“ Dabei gibt sich Gernun keineswegs als Verfechterin von Verboten und Verordnungen. Sie will es schlicht auf die einfache Formel bringen: „Wer sich schützt, schützt andere“ – und wenn die Menschen ihre Eigenverantwortung ernst nähmen, müsse man „nicht irgendwelche Veranstaltungen sein lassen.“ Gleiches gelte mithin für eine erneute Maskenpflicht in Innenräumen, wie der Berufsverband der Amtsärzte sie jüngst gefordert hat. Im Hinblick auf den Infektionsdruck halte sie die Pflicht für sinnvoll und hilfreich; „ganz viel Werkzeug, um Infektionen zu vermeiden, haben wir nicht. Maske tragen hilft und schützt, es ist aber eigentlich traurig, wenn man es wieder anordnen muss.“
Schon seit einigen Wochen sei auch im Kreis Soest ein Anstieg der Infektionswelle zu sehen, „wenn wir auch im NRW-Vergleich noch an niedriger Stelle liegen“, so Gernun. Am Mittwoch wies das RKI für den Kreis Soest eine Inzidenz von 414,2 aus, NRW lag bei 578,5 – Aussagekraft besitzen diese Werte allerdings kaum. Denn erfasst werden ausschließlich positive PCR-Tests, die viel seltener überhaupt durchgeführt werden, seit die Teststrategie sich geändert hat. Die Formel ist einfach: Weniger Schnelltests heißt weniger PCR-Tests. Die Dunkelziffer sei „sicher sehr, sehr viel höher“.
Bedenklich findet Gernun das vor allem im Zusammenhang mit Daten, die darauf schließen lassen, dass viele Infizierte auch nach einem positiven Corona-Test zur Arbeit gehen. Der sorglose Umgang mit einer Infektion belaste auch das Gesundheitssystem: „Wir sehen Probleme in den Krankenhäusern durch den Ausfall von Personal, durch Pflegekräfteknappheit: Es belastet das gesamte System.“
Das Klinikum Stadt Soest hatte, wie berichtet, die Besucherregelung zunächst verschärft und setzt jetzt einen Sicherheitsdienst ein, der die Einhaltung der Corona-Regeln kontrolliert. In den Häusern des Hospitalverbunds Hellweg, zu dem das Soester Marienkrankenhaus und das Mariannenhospital Werl gehören, sehen die Verantwortlichen durchaus einen Anstieg der Infektionszahlen, sagt Sprecherin Karin Riedel. Bei Patienten gelte nach wie vor, dass etliche aufgrund anderer Erkrankungen im Krankenhaus seien und dann die „Nebendiagnose“ Corona festgestellt werde. NRW-weit wird die Hospitalisierungsinzidenz zur Wochenmitte mit 10,8 angegeben.
Ist es aber angesichts wenig aussagekräftiger Daten nicht an der Zeit, den Umgang mit Corona zu ändern? „Sars-CoV-2 wird bleiben“, sagt Andrea Gernun, „wir müssten zu einer Normalität kommen, wie es in anderen Ländern auch ist. Wir müssten Corona wie andere humanpathogene Erreger behandeln.“ Die Politik sei gefragt, zu entscheiden, welche Maßnahmen künftig ergriffen werden müssten. „Dass das Virus mutiert, steht außer Frage. Sollte das dazu führen, dass die Krankheitsverläufe noch milder werden, fällt es leichter, zu sagen, wir nehmen es, wie es ist, aber es wird uns nicht weiter limitieren.“ Wenn das Ziel sei, vulnerable Gruppen zu schützen, müsse situationsbezogen reagiert werden, sagt die Behördenleiterin. Ganz so, wie es bei anderen Infektionskrankheiten bereits geübte und bewährte Praxis sei.