Heimweh nach Kiew

Manch einer würde sich vielleicht wünschen, mehr Zeit für sein Hobby zu finden. Doch man stelle sich vor, man hat auf einmal nicht viel mehr als dieses Hobby. Keine Möglichkeit, den Beruf auszuüben, wenig oder gar keinen Kontakt zu Familie, Freunden, Kollegen, dem gewohnten sozialen Umfeld, nur zu den eigenen Kindern. Ihr Vater ist 2000 Kilometer entfernt, muss täglich um sein Leben bangen. Dann weiß man wenigstens ungefähr, wie es Inna Zil geht.
Herzfeld – Die Ukrainerin hat es vergleichsweise gut getroffen, mit ihren beiden kleinen Kindern lebt die 33-Jährige seit einem halben Jahr privat in einer Herzfelder Einliegerwohnung. Normalerweise stünde die Gynäkologin und Hebamme – dort ein einziger akademischer Beruf – in einem Krankenhaus in Kiew, würde auf der Geburtsstation werdende Mütter entbinden.
Statt anderen ins Leben zu helfen, muss sie aus der Ferne in den Nachrichten verfolgen, wie ihre Landsleute aus dem Leben gerissen werden durch einen brutalen Angriffskrieg. Ihr Mann, ein Buchhalter, durfte zwar das Land nicht verlassen, wurde aber immerhin nicht eingezogen: „Er wäre bereit gewesen, für unser Land zu kämpfen, aber ihm wurde gesagt: Wir haben dafür schon genügend – vielleicht in der Zukunft.“ Nur wer wirklich eine sehr kinderreiche Familie hat, alt oder krank ist, darf ausreisen. Aber ihr Mann ist 45, fit und „nur“ zweifacher Vater.
Backen, um die Zeit totzuschlagen
An den Beginn des Kriegs erinnert sie sich noch genau. Um halb fünf Uhr in der Frühe habe sie Explosionen gehört. „Ich fragte mich, was kann ich tun mit meinen Kindern? Abends sind wir zu meiner Mutter gefahren, die in einer anderen Region des Landes lebt. Dort blieben wir drei Wochen, dann beschlossen meine Schwester und ich, das Land mit unseren Kindern zu verlassen.“
Von dort ging es mit dem Auto nach Lwiw, dann mit dem Bus nach Dortmund. „Ich lerne Deutsch allein zuhause, wenn die Kinder schlafen, mein Integrationskurs beginnt erst im Oktober“, erzählt sie. Warten, das ist es, was im Wesentlichen von ihr erwartet wird.
So backt sie in ihrer Freizeit Torten, in Zeiten inflationär steigender Lebensmittelpreise vielleicht nicht das günstigste Hobby, „aber dazu hatte ich sonst nie die Zeit. Jetzt sitze ich hier, ich möchte arbeiten und kann es hier in meinem Beruf nicht. Ich brauche eine Beschäftigung. Und jetzt wird es Herbst, es ist nass und kalt, genau die richtige Zeit dazu“. Die Zutaten bekommt sie auch im örtlichen Handel, trotz der Sprachbarriere.
Alleine mit zwei kleinen Kindern
Gerne würde sie ihre Künste auch anderen anbieten, aber dazu müsste sie zumindest ein Kleingewerbe anmelden – und die Behördengänge sind schon beschwerlich genug, geradezu ein Buch mit sieben Siegeln: „Bei uns sind die viel einfacher, es gibt nicht so viele verschiedene an unterschiedlichen Orten. Da gibt es für Migranten eine einzelne Behörde, alles unter einem Dach, und man kann auch wohnen, wo man will.“
Auch für die kleinen Kinder Alexander und Maria, zwei und vier Jahre alt, ist es nicht leicht – in dem Alter kann man noch nicht nachvollziehen, was in der Welt los ist, registriert aber, dass etwas nicht stimmt, wenn man plötzlich in eine fremde Welt gesetzt wird. Und auch für ihre Mutter ist es psychisch belastend, die Stimmungsschwankungen der Kinder mitzuerleben.
„Und klar, in den Kindergärten sind sonst keine ukrainischen Kinder, ich mache alles mit den Kindern. Auch alle Behördengänge wie beim Jobcenter. Vielleicht kommt meine Mutter hierher, dann kann sie mal auf die beiden aufpassen, wenn ich im Integrationskurs bin.“ In der Nachbarschaft gibt es Kinder aus aller Herren Länder. Mit deren Kindern spielen ihre – das klappt, auch wenn sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Nun jedoch kommt der kleine Alexander an einigen Wochentagen zu Tageseltern, an zwei Tagen gibt es auch eine Gruppe nur ukrainische Kinder, aber die Eltern müssen anwesend sein.
Dienstags treffen sich die Landsleute, die es nach Lippetal verschlagen hat. Über eine WhatsApp-Gruppe lädt Inna Zil alle Ukrainer, die sie hier kennengelernt hat, dazu ein, bringen sich gemeinsam elementare Deutschkenntnisse bei, sie besucht das Café Kiew im Treffpunkt Süd in Soest.
Indes ist die nächste Torte fertig geworden. In den Farben der ukrainischen Nationflagge, garniert mit echten Blumen und einem Element des Staatswappens, aus Schokolade gegossen. Eine süße Erinnerung an bessere Zeiten.