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Feuerwehr-Kritik: „Rundum-sorglos-Mentalität wird uns um die Ohren fliegen“

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Von: Daniel Schröder

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Rückblick auf einen Brand in einem Fachwerkhaus in der Soester Altstadt: Feuerwehrleute kommen mit einer tiefschwarzen Rußschicht überzogen aus dem Haus. Nur ein Beispiel für die Belastung, der sie oft ausgesetzt sind.
Rückblick auf einen Brand in einem Fachwerkhaus in der Soester Altstadt: Feuerwehrleute kommen mit einer tiefschwarzen Rußschicht überzogen aus dem Haus. Nur ein Beispiel für die Belastung, der sie oft ausgesetzt sind. © Daniel Schröder

Kreisbrandmeister Thomas Wienecke zog im Rettungsausschuss des Kreises Bilanz zum vergangenen Jahr. Die immer weiter steigenden Einsatzzahlen seien auch ein Produkt einer „Rundum-sorglos-Mentalität“ der Bürger.

Kreis Soest – Zu mindestens 4122 Einsätzen rückten die Feuerwehren aus dem Kreis Soest im vergangenen Jahr aus. In Wirklichkeit sind es noch mehr gewesen, denn: Bei großen Flächenlagen durch Unwetter und Co. wird wegen der schieren Masse oftmals nicht jeder einzelne Einsatz erfasst. Im Vergleich zu 2021 blickte Kreisbrandmeister Thomas Wienecke in seiner Jahresbilanz im Kreis-Rettungsausschuss auf eine Steigerung von 798 Einsätzen. Ein Trend, der sich seit Jahren fortsetzt. Die Ursachen seien vielfältig, erklärte Wienecke.

Einerseits sei er nicht zu leugnen, sondern spiegele sich ganz eindeutig im Einsatzgeschehen der Feuerwehren wider: der Klimawandel. Rückten die Einsatzkräfte zwischen 2000 und 2010 zu sieben Extremwetter-Lagen aus, waren es zwischen 2011 und 2022 schon 30. Im vergangenen Jahr schossen die Unwetter-Lagen den Feuerwehrleuten im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren: Umgestürzte Bäume ohne Ende zwischen dem 17. und dem 19. Februar, dann, am 20. Mai, ein Phänomen, dass es bis dato in dieser Intensität im gesamten Kreis – und laut Wienecke auch in ganz NRW – noch nicht gegeben hatte: ein Tornado, der die Stadt Lippstadt auf einer kilometerlangen Schneise verwüstete.

Kreisbrandmeister Thomas Wienecke gab im Rettungsausschuss des Kreises einen Überblick über das Feuerwehr-Jahr 2022.
Kreisbrandmeister Thomas Wienecke gab im Rettungsausschuss des Kreises einen Überblick über das Feuerwehr-Jahr 2022. © Daniel Schröder

„Wir haben damals Glück gehabt, dass es vor dem Tornado so fürchterlich geregnet hat, sodass die Menschen sich in ihren Häusern aufhielten. In Paderborn, wo der Tornado ebenfalls wütete, waren viele Leute draußen.“ 850 Einsatzkräfte wurden im Mai aus dem Rettungszentrum heraus koordiniert. „Das war eine extreme Herausforderung“, erinnerte sich der Kreisbrandmeister. Rückblickend habe im Vorfeld niemand damit rechnen können, dass es so heftig würde.

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„Wenn wir uns über solche Dinge Gedanken machen, muss ich sagen: Dann stöhnen wir auf sehr hohem Niveau“

„Wir haben den Großeinsatz analysiert, uns selbstkritisch betrachtet. Kritisiert wurde die Verpflegung, da haben wir nachgesteuert. Beim Galvanik-Großbrand in Werl hat sich gezeigt, dass das schon deutlich besser klappt. Aber wenn wir uns in der Nachbetrachtung über solche Dinge Gedanken machen, muss ich sagen: Dann stöhnen wir auf sehr hohem Niveau.“

Ein weiterer Auslöser für die zunehmende Einsatzbelastung eines jeden Feuerwehrmitglieds sei die Erwartungshaltung in der Bevölkerung: „Sie ist extrem hoch, zu hoch! Ich appelliere an alle, das in ihrem Freundes- und Familienkreis zu thematisieren. Es braucht Hilfe zur Selbsthilfe. Die Rundum-sorglos-Mentalität, die es in unserer Gesellschaft mittlerweile gibt, wird uns irgendwann um die Ohren fliegen.“

„Die Bilder, die die Einsatzkräfte dort sehen, sind sehr nachhaltig“

Angesichts explodierender Einsatzzahlen und Wetter-Extremen, die mittlerweile zwei- bis dreimal in den Jahreskalender einer jeden Einsatzkraft gehören, stellte Wienecke die Frage nach Normalität. Die gab es durchaus – wenn auch mit bitterem Hintergrund: „Es gab eine Vielzahl von Bränden, eine Vielzahl von Verkehrsunfällen. Gerade Unfälle beeinflussen uns als Menschen natürlich auch – da geht es ganz konkret um Leben und Tod. Die Bilder, die die Einsatzkräfte dort sehen, sind sehr nachhaltig.“

Als eines von vielen Beispielen nannte er einen schweren Glatteis-Unfall in Lippetal im Dezember, wo die Feuerwehrleute eine schwerverletzte Frau aus ihrem völlig zerstörten Fahrzeug-Wrack retten mussten. In diesem Zusammenhang lobte der Kreisbrandmeister die Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienst. Bei vielen Bränden mussten die Feuerwehrleute – von denen es 3 527 im Kreisgebiet gibt – an ihre Grenzen und darüber hinaus gehen. „Es gab Brände, die zu höchsten Belastungen führten.“ Er erinnerte beispielhaft an einen Brand in einem Soester Fachwerkhaus – Fotos dokumentierten, wie die Feuerwehrleute, die eine vermeintlich vermisste Person im heißen und dichten Rauch gesucht hatten, mit tiefschwarzer Rußschicht überzogen aus dem Haus kamen.

Kreis Soest setzt auf Spezialeinheiten

Zudem gab Wienecke den Kreis-Politikern einen Einblick, wie sich die Dinge zuletzt auszahlten, die in der Vergangenheit durch ihre Zustimmung beschafft oder aufgebaut werden konnten: Er nannte die Drohnen-Gruppe des Kreises. „Das Projekt wurde anfangs sehr skeptisch gesehen. 2022 war die Gruppe 17 Mal im Einsatz, wurde oftmals bei Großeinsätzen angefordert – es wurde deutlich: Sie ist eine absolute Notwendigkeit. Zur Lage-Beurteilung sind Drohnen unfassbar wichtig.“ Als elementares Zahnrad bewiesen sich zudem einmal mehr die beiden Quads des Kreises, die in Geseke und Möhnesee stationiert sind: Elf mal waren sie alarmiert – bei sieben Personensuchen sowie vier Rettungseinsätzen.

Auch die Höhenretter, die immer dann im Einsatz sind, „wenn es um Menschenleben geht“, die ABC-Züge, Führungsstab und weitere Spezialeinheiten der Feuerwehren im Kreis Soest wurden von Wienecke hervorgehoben. Der Abrollbehälter-Atemschutz, der von Mitarbeitern der Feuerwehrtechnischen Zentrale des Kreises zu Einsatzstellen gebracht wird, wenn das Atemschutz-Material vor Ort aufgebraucht ist, war 2022 insgesamt 32 Mal im Einsatz. „Das ist extrem, diese Zahl hatten wir noch nie. Auch hier wird klar: Die Brände werden intensiver.“

„Ich bin sehr stolz darauf, dass wir im Kreis Soest im Vergleich zu anderen Gebietskörperschaften einen hervorragenden Stand haben.

Kreisbrandmeister Thomas Wienecke

Parallel wurde die Ersatz-Einsatzkleidung (PSA) des Kreises zwischen August und Dezember 19 Mal angefordert. „Die jeweiligen Feuerwehren hatten nicht mehr ausreichend persönliche Schutzausrüstung zur Hand, weil die eigene im Zuge von Einsätzen verschmutzt und in die Reinigung gebracht worden war. Die Ersatz-Kleidung des Kreises wurde angefordert, um die Einsatzbereitschaft aufrechtzuerhalten. Das zeigt, dass wir mit unseren Projekten genau auf dem richtigen Weg sind.“ 264 Feuerwehrleute wurden auf Kreis-Ebene in Zusammenarbeit mit den Kreisen Unna, Coesfeld und der Stadt Hamm ausgebildet.

Thomas Wienecke bilanzierte: „Ich bin sehr stolz darauf, dass wir im Kreis Soest im Vergleich zu anderen Gebietskörperschaften einen hervorragenden Stand haben. Es gibt eine enorme Entwicklung, eine enorme Belastung. Dabei muss immer wieder betont werden: Die Feuerwehren im Kreis Soest sind rein ehrenamtlich aufgestellt, außer in Lippstadt, wo es eine hauptamtliche Wache gibt. Aber auch dort sind jeden Tag nur neun Personen im Dienst, auch dort ist die Freiwillige Feuerwehr die Haupt-Stütze.“

„Wir sind gut, aber keine Übermenschen“

Neben der Erwartungshaltung aus der Bevölkerung heraus gebe es auch eine große Erwartung aus Reihen der Politik. „Sie erwarten, dass wir alle Lagen in den Griff bekommen – wir sind gut, aber keine Übermenschen. Wir geben unser Bestes, doch manchmal reicht das nicht und wir kommen an unsere Grenzen.“

Dank an Wienecke und seine 3526 Feuerwehr-Kameraden gab es aus allen politischen Lagern. Der Rüthener CDU-Mann Timo Zimmermann betonte: „Die Feuerwehr ist das professionalisierteste Ehrenamt der Welt.“ Erwin Koch (SPD) aus Warstein unterstrich, dass die Menschen aus dem Kreis Soest sich rund um die Uhr auf die Feuerwehren verlassen könnten und der Werler Shahabuddin Miah (Grüne), gebürtig aus Bangladesch, stellte fest: „In meiner Geburtsgemeinde gibt es keine Feuerwehr, keinen Rettungsdienst, keinen Notarzt. Da muss man selber klarkommen. Hier wiederum erwarten die Menschen oft zu viel.“

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