Und es gilt, genau hinzusehen, um den hohen Anstieg der Fallzahlen richtig einzuordnen. 2021 als das zweite Pandemiejahr hat ganz andere Voraussetzungen mitgebracht als 2020, als im strengen Lockdown auch die Beratungen in der Fachberatungsstelle zurückgefahren worden waren. Dazu die geschlossenen Schulen und Kindergärten, sowie Angebote der Jugendhilfe: Es sei davon auszugehen, dass Vorfälle sexualisierter Gewalt aus 2020 erst später festgestellt wurden oder Betroffene, aber auch Fachkräfte sich erst 2021 um weitergehende fachliche Hilfe bemüht haben, heißt es vom DKSB. Auch strategische Gründe spielen in der Betrachtung der hohen Zahlen eine Rolle. So hat die Fachberatungsstelle im vergangenen Jahr unter der neuen Leitung von Sabine Erhard an der Vernetzung mit den verschiedensten Einrichtungen und Institutionen im Kreis Soest – die Stelle ist verantwortlich für alle Städte und Gemeinden mit Ausnahme von Lippstadt – gearbeitet.
Einen neuen Schwerpunkt setzen die Beraterinnen bei sexuell grenzverletzendem Verhalten – womit der deutliche Anstieg der Fallzahlen in diesem Bereich, von 10 auf 19 Prozent, erklärt ist. Hans Meyer, Vorsitzender des Kinderschutzbundes im Kreisverband Soest, will auch den Fokus auf die Öffentlichkeitsarbeit betonen, der zu einer größeren Bekanntheit der Beratungsstelle und damit auch zu neuen Kontakten geführt haben mag. Wer die Beratungsstelle kennt, wer das Thema auf dem Schirm hat, der reagiert womöglich eher auf Anzeichen, die dafür sprechen, dass einem Kind oder Jugendlichen sexualisierte Gewalt angetan wird. Eine Sensibilisierung ist auch im Zusammenhang mit Schlagzeilen um Fälle aus Lügde, Münster und Bergisch Gladbach anzunehmen.
Viele Gründe also, die erklären, wieso mehr als doppelt so viele Fälle die Fachberatungsstelle beschäftigt haben. Gleichwohl gibt es Erkenntnisse, dass in der Pandemie mehr Kinder und Jugendliche Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Besonders deutlich bildet das der Beratungsbedarf im Bereich digitaler sexualisierter Gewalt ab. Die Nachfrage nach Beratungen ist hier enorm gestiegen, und das von Seiten der Kinder und Jugendlichen, aber auch von Fachkräften, heißt es im Jahresbericht der Fachberatungsstelle. „Kinder und Jugendliche haben in den letzten zwei Jahren mehr Zeit am Bildschirm und Online verbracht“, sagt Sabine Erhard, „dazu kommt, dass Täter die verschiedenen Plattformen mehr und mehr für sich entdeckt haben.“
Viel Arbeit liegt in der Prävention und Sensibilisierung für die Gefahren des Internets: „Eltern würden ihr Kind nicht allein in die Wildnis lassen. Aber im Internet sind sie viel zu oft auf sich allein gestellt.“ Die Präventionsarbeit der Beratungsstelle übrigens hat nicht geruht; sie wurde 2021 lediglich in den digitalen Raum verlagert.
Die Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen hat 2021 insgesamt 243 Fälle bearbeitet, das entspricht einem Anstieg um 115 Prozent gegenüber 2020 (113 Fälle). Die Mitarbeiterinnen führten 761 Beratungsgespräche durch (2020: 422, Steigerung ca. 80 Prozent). 46 Prozent der Beratungen erfolgten für betroffene Kinder und Jugendliche (351), zu 25 Prozent suchten Eltern oder andere Angehörige Hilfe (193), zu 29 Prozent Institutionen (217) wie Jugendämter und Jugendhilfeeinrichtungen (78 Prozent), Kitas und Schulen (14 Prozent), Ärzte, Polizei. Die (mutmaßlichen) Opfer sind überwiegend weiblich (66,5 Prozent), erkennbar ist ein Altersfokus bei den 6- bis 12-Jährigen.
Die sexualisierte Gewalt ging mutmaßlich zu einem signifikant hohen Prozentsatz von Männern aus, wobei die Leiterin der Fachstelle, Sabine Erhard, die hohe Dunkelziffer bei von Frauen ausgeübter sexualisierter Gewalt betont und darauf hinweist, dass Frauen als Täterinnen häufiger tabuisiert werden.
Tatverdacht fällt in den seltensten Fällen (nur zu 9 Prozent) auf Fremde, vor allem in der Familie kommt es zu Gewalt. Mutmaßliche Täter sind Bruder (8 Prozent), erwachsene Männer in Vaterfunktion (8 Prozent), männliche Verwandte (12 Prozent), Väter (16 Prozent).