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Ense: Ein Jahr nach tödlichem Unfall teilen Angehörige ihre Erfahrungen

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Von: Karin Hillebrand

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Antonias Familie und Freunde halten eng zusammen (von links): Valentina und Maxi Becker, Kirsten Padberg, Tanja Klar, Sven Padberg, Leon Brandt, Saskia Gerber, Cheyenne Klar und Stefanie Padberg.
Antonias Familie und Freunde halten eng zusammen (von links): Valentina und Maxi Becker, Kirsten Padberg, Tanja Klar, Sven Padberg, Leon Brandt, Saskia Gerber, Cheyenne Klar und Stefanie Padberg. © Karin Hillebrand

Vor einem Jahr starb die 16-jährige Antonia unverschuldet bei einem Motorrad-Unfall. Ein Moment der Unaufmerksamkeit veränderte für Freunde und Familie alles. Gemeinsam teilen sie nun ihre Erfahrungen, und werben für gegenseitige Rücksichtnahme.

Bremen - „Toni kommt nicht mehr nach Hause.“ Diesen Satz spricht Valentina Becker unzählige Male, mehr bekommt sie nicht heraus. Es ist der 25. August 2021. Am Morgen ist ihre 16-jährige Schwester Antonia bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Valentina übernimmt die Aufgabe, Verwandte und Freunde zu informieren. Ein Jahr nun hat ein jeder von ihnen ohne die geliebte Freundin, Tochter, Nichte, Schwester, Enkelin durchlebt und neue Erfahrungen machen müssen. Jetzt sitzen sie im Wohnzimmer von Antonias Mutter Stefanie Padberg, der Unfall hat alle zusammengeschweißt. „Es war ein Morgen wie jeder. Ich habe ihr Äpfelchen gemacht, sie an der Tür verabschiedet“, sagt sie. Auf dem Weg zur Autobahn kommen ihr Polizei und Rettungswagen entgegen.

Plötzlich steht die Polizei vor der Tür

Stefanie Padberg soll an dem Morgen erstmalig eine Schulung in Essen geben, baut dort angekommen alles Notwendige auf. „Dann rief mich mein Vermieter an, sagte mir, die Polizei stehe vor meiner Tür.“ Die meldete sich schließlich telefonisch, teilte den Unfall mit. Um 9.30 Uhr kamen Beamte aus Essen, erinnert sie sich. „Niemand sagte mir, in welchem Krankenhaus Antonia ist. Mir fremde Schulungsteilnehmer brachten mich und mein Auto nach Hause. Meine Tochter Valentina wusste zu dem Zeitpunkt schon mehr als ich.“ Viele Menschen kommen an dem Tag zu ihr, darunter auch Freunde von Antonia. „Ich dachte, ich kann das nicht. Gleichzeitig konnte ich sie aber auch nicht alleine lassen“, fährt die 52-Jährige fort. Antonias Freund brachte mit seiner Schwester einen Seelsorger mit. „Der konnte viele Fragen beantworten, auch, wo Antonia ist und bot Hilfe an, ohne sich dabei aufzudrängen.“

Freunde blieben lange am Sarg, spielten Musik

Vom Beerdigungsinstitut erhält sie mehrere elektronische Schlüssel zu dem Raum, an dem ihre Tochter aufgebahrt wird: „Ich habe versucht, all ihren Freunden den Zugang zu ermöglichen. Sie kamen, setzten sich lange zu ihr und spielten Musik vom Handy. Das hat mich getragen.“ „Ich kann jedem nur ans Herz legen, sich am Sarg zu verabschieden. Einige von uns wollten erst nicht, später konnten sie nicht mehr“, sagt Leon Brandt dazu, der an besagtem Tag seine Freundin verloren hat. „Um 12.20 Uhr habe ich Bilder vom Soester Anzeiger gesehen und Antonias Motorrad erkannt, wir sind zur Unfallstelle gegangen, dann zu Steffi. Ich konnte fast zwei Wochen nicht zur Schule gehen, habe sie drei bis vier Monate schleifen lassen, weil ich es nicht schaffte aufzustehen. Ich bin seitdem in Therapie, habe viel mit Freunden geredet und mir Zeit für mich genommen. Seit einiger Zeit fahre ich auch wieder Motorrad. Es ist wichtig, sich Hilfe zu suchen.“

„Man darf sich nicht selbst überschätzen“

Eines möchte der 17-Jährige jungen Verkehrsteilnehmern mitgeben: „Man darf sich selbst nicht überschätzen, das habe ich früher auch getan. Ich sehe bei Freunden, dass nicht auf die Geschwindigkeit geachtet wird und man unvorsichtig fährt – auch wenn Fußgänger in der Nähe sind.“ Auf den motorisierten Untersatz könne man in Ense nicht verzichten, wenn man mobil sein will. „Es sind lange Schulwege und das öffentliche Verkehrsnetz ist hier nicht so gut ausgebaut“, pflichtet Tanja Klar bei. „Meine Tochter Cheyenne machte an meiner Arbeitsstelle ihr Jahrespraktikum, als sie aufgelöst mit dem Foto, das herum geschickt wurde, zu mir kam: eine Yamaha, letzte Baureihe. Eine Sonderedition mit besonderen Aufklebern und roten Griffen. Seitdem ist alles anders bei uns zuhause. Dabei war es das Jahr nach Corona. Die jungen Leute hätten feiern und selbstständig werden können.“ Die Familie fragt sich, wie sich der Unfallfahrer fühlt – ein junger Mann, der Antonia beim links Abbiegen übersehen hat: „Im Juni war seine Gerichtsverhandlung, Cheyenne wollte Klarheit haben. Er tut ihr nur noch leid.“

Drogen, Alkohol, Handy am Steuer, ein schnelles Auto – das war hier alles nicht im Spiel. Es war eine Situation, wie sie vielleicht jedem von uns schon passiert ist – nur wir hatten Glück.“ 

Sven Padberg, Antonias Onkel

Das bestätigt auch Sven Padberg, Antonias Onkel: „Ich habe ihn auf dem Flur des Amtsgerichts mit verheulten Augen gesehen. Während der Verhandlung sagte er, er schlafe abends mit Antonia ein und wache morgens mit ihr auf. Drogen, Alkohol, Handy am Steuer, ein schnelles Auto – das war hier alles nicht im Spiel. Es war eine Situation, wie sie vielleicht jedem von uns schon passiert ist – nur wir hatten Glück.“ Der 47-Jährige ist selbst im Rettungsdienst tätig, hat schon einiges gesehen. „Die Fotos von der Unfallstelle und dem Motorrad versetzen die Jugendlichen in Panik. Sie kennen ihre Maschinen untereinander, wissen genau, wem sie gehören. Man weiß nicht, wo sie sich gerade aufhalten, wenn sie die Bilder sehen, das ist gefährlich.“ Zumal die Aufnahmen sich heute über das Internet schnell verbreiten.

Sven Padberg steht an Antonias Todestag auf dem Gerüst, erledigt letzte Arbeiten am Anstrich seines Hauses: „Es lief im Radio Schlagerparadies – dann kam Valentinas Anruf. Alles stand still.“ Mit seiner Frau Kirsten fährt er los, der Schwester helfen. Sie sind einfach da, nehmen die trauernde Mutter in den Arm, überbringen dem Opa und der Patentante die unfassbare Nachricht. Das Jahr über wird er die Post des Anwalts für seine Schwester vorab lesen und filtern. Zur Beerdigung gießt Sven Padberg einen Engel aus Beton für das Grab, lässt ihn mit Blumen herrichten. Auch an den Sarg hat er sich nach anfänglicher Scheu getraut – alles kleine Schritte, um das Ganze fassen zu können. „Ich bin seit dem Tag sehr sensibel geworden und erleide körperliche Schmerzen, wenn es um Geschwindigkeit und Motorradfahrer geht“, erzählt Kirsten Padberg.

„Vieles ist unwichtig“

Das Paar lebt in der Nähe des Sorpesees bei Sundern. Dort wird am Wochenende teils gerast. „Ich hoffe, dass der Trend, ohne große Fahrkenntnis auf so ein Motorrad zu steigen, zurück geht. Meist sind die anderen schuld, aber unerfahrene Fahrer sehen die Gefahr nicht“, erklärt sie. „Insgesamt sehe ich mittlerweile viele Dinge anders. Vieles ist unwichtig.“ Mit Leichtigkeit versucht die Familie der Last zu begegnen. Free like the wind, frei wie der Wind, steht auf der Trauerkarte. „Antonia war fröhlich und hilfsbereit. Wenn ich traurig war, hat sie etwas gesungen, sodass ich lachen musste. Wir haben uns gefragt, wie Antonia es gerne gehabt hätte und haben aus der Beerdigung eine Party gemacht“, erläutert Valentina. Sie hat vor einem Jahr neben dem ihr wichtigsten Menschen auch viele Freunde verloren, die nicht mit ihrer Trauer umgehen konnten.

Kurz nach Antonias Tod stellt sie eine Petition zur Errichtung eines Kreisverkehrs an der Unfallstelle, der Kreuzung Bahnhofstraße/B516, ins Internet. „Die Resonanz darauf gab mir Halt. Ich habe es geschafft, meine Ausbildung zu beenden, habe eine neue Wohnung, einen neuen Job. Ich bin durch das Geschehen selbstbewusster geworden. Es ist wichtig, sein Leben so zu gestalten, wie man es möchte und ein klares Nein für die Dinge aufzubringen, die man nicht möchte.“ Ihr Bruder Maxi Becker ist ruhiger geworden: „Ich war früher viel feiern, war oft der Lauteste. Jetzt weiß ich die Sachen mehr zu schätzen. Wenn ich aus der Tür gehe, kann in der Zwischenzeit immer jemand sterben. Man sollte jeden Tag genießen und nicht leichtsinnig sein.“

Antonia hat den Tag gelebt, ich nehme mir ein Beispiel daran. Unternehme häufiger etwas, denn es kann schnell zu Ende sein.

Cheyenne Klar

„Das Jahr war schwer. Ich bin nachdenklicher geworden, bringe Kerzen ans Grab und sitze dort. Man sollte so etwas nicht alleine durchstehen und sich an die nächststehende Person wenden“, sagt Saskia Gerber. Ihre Freundin Cheyenne ergänzt: „Antonia hat den Tag gelebt, ich nehme mir ein Beispiel daran. Unternehme häufiger etwas, denn es kann schnell zu Ende sein.“ Abgestoßen haben sie Einträge in den sozialen Medien: „Es kamen Anfragen und Storys von Menschen, mit denen ich seit Jahren nicht gesprochen habe und die nicht hinter ihren Worten stehen. Sie wollten sich interessant machen und zeigen, dass sie Antonia irgendwann mal gekannt haben. Das ist das letzte, was man braucht.“

Der Zusammenhalt hat Patentante Hiltrud Wiggeshoff geholfen, Antonia über die vielen Gespräche nach ihrem Tod besser kennen zu lernen. Der hat sie eines gelehrt: „Ich bin beruflich viel mit dem Auto unterwegs, fahre jetzt total achtsam – egal wie sehr ich im Stress bin.“ Das bestätigt auch Stefanie Padberg: „Ich schaue mich einmal mehr um, fahre an Kreuzungen nicht ganz nach vorne, sodass der neben mir auch etwas sehen kann. Und ich sage den Kindern, dass sie drängelnde Autos ignorieren sollen.“

An der Unfallkreuzung gilt nun Tempo 50

An der Unfallkreuzung ist mittlerweile Tempo 50 eingerichtet, trotzdem würden einige Autofahrer hupen, wenn man sich daran halte.

 Wenn ich nur einen Jugendlichen erreiche, ist es mir das wert.

Stefanie Padberg über ihre Teilnahme an einem Unfallpräventionsprogramm

Kürzlich war Stefanie Padberg Gast bei Crash Kurs NRW, einem Unfallpräventionsprogramm der Polizei. Hierbei erzählen Betroffene – darunter auch Polizisten, Feuerwehrleute und Notfallseelsorger – jungen Erwachsenen von ihren Erfahrungen. „Die arme Familie, habe ich früher immer gedacht. Mir ist jetzt erst klar geworden, wie viele Menschen solch ein Unfall trifft. Ab Oktober möchte ich aktiv dort mitmachen – und wenn ich nur einen Jugendlichen erreiche, ist es mir das wert.“

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