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Kahlschnitt sorgt für Unmut: Vögel und Insekten sind bedroht

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Von: Klaus Bunte

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In Bittingen mussten jetzt Bäume gefällt werden, weil sie verfault waren.
In Bittingen mussten jetzt Bäume gefällt werden, weil sie verfault waren. © Peter Dahm

Die Kritik an Straßen-NRW ist groß. Zu viel wird gehäckselt, geschnitten und gefällt. Tiere verlieren ihren Lebensraum und ihre Nahrungsquellen. Was das auf Dauer bedeutet.

Ense – Allerorten sieht man sie wieder, die großen Fahrzeuge, die die Straßenränder abfahren und die Banketten kurz schneiden. Den Nutzen solcher Grünstreifen beschreibt der Landesbetrieb Straßen-NRW auf der Homepage folgendermaßen: „Verkehrstechnisch als Sicht-, Blend- und Windschutz, bautechnisch unter anderem als Böschungssicherung, gestalterisch beispielsweise zur landschaftsgerechten Einbindung der Straße.“

Einen Punkt nennt er dabei nicht: den ökologischen, als Heimat und Nahrungsquelle für Vögel und Insekten. Die Vorwürfe, vor allem die Straßenmeistereien, aber auch die Betriebshöfe der Kommunen und des Kreises übersähen diesen Punkt, nehmen zu – derzeit besonders in Ense.

Schnitte sind „Radikal und übertrieben“: Kahlschnitt an Straßenrändern

Sowohl im jüngsten Ausschuss für Planung, Bau und Verkehr als auch im Gemeinderat machten Politiker verschiedener Fraktionen ihrem Unmut Luft. Udo Müller (Grüne) etwa bezeichnete die Schnitte als „radikal und übertrieben“. Andreas Vetter (BG) stimmte mit ein. Es gebe „klare Absprachen, doch daran hält sich keiner.“

Besonders stark sei der „Kahlschlag“ an der B 516, meint Müller: „Im Vergleich zu dem, was Straßen-NRW dort macht, sind Gemeinde und Kreis Waisenknaben“. Die Bundesstraße entlang des Haarstrang fällt in die Zuständigkeit des Landesbetriebs.

Kritik an Straßen-NRW: Mulchen, häckseln und schneiden ohne erkennbaren Sinn

Anzeiger-Leserin Klaudia Seltmann hat beobachtet: „Wenn im Oktober der Vogelschutz endet, rückt Straßen-NRW aus, um zu fällen, schneiden, häckseln und mulchen. Dabei wird ohne erkennbaren Sinn alles gerodet, was vor dem Schneidwerk steht, und gemulcht bis unter die Grasnarbe. Da wird der Boden komplett kahl gefräst, und sollten im Laub Tiere Unterschlupf suchen, werden die komplett geschreddert. Das Schnittgut wird abgefahren und nicht mehr gehäckselt und der Natur zurückgegeben, wodurch dem Boden diese Nährstoffe entzogen werden.“

Sie findet, es werde mit zweierlei Maß gemessen: „Jeder Häuslebauer kann ein Lied über Auflagen zum Ausgleich der Versiegelungen singen, die Landwirte unterliegen ebenfalls immer strengeren Regelungen. Lediglich Straßen-NRW scheint von Regelungen zum Schutz der Natur nicht betroffen zu sein. Sie haben scheinbar noch einen anderen Planeten zur Verfügung.“

Hecken nur alle 10 bis 5 Jahre „auf Stock setzen“: Langfristige Erhaltung

Besonders häufig würden bei diesen Arbeiten die Gehölze „auf Stock gesetzt“. Darunter versteht man, wenn Hecken in der Feldflur, die zum Windschutz oder zur Besitzabgrenzung sowie gewässerbegleitend angelegt wurden, von Zeit zu Zeit bis auf eine Höhe von 20 Zentimetern zurückgeschnitten und zum Stockausschlag gezwungen werden, um die Hecke dicht zu halten.

Birgit Kalle, Pressesprecherin beim Kreis Soest: „Auf den Stock setzen wir eine Hecke aber nur alle zehn bis 15 Jahre, und das ist auch nötig, um sie langfristig zu erhalten.“ Das entspräche Klaudia Seltmanns Haltung: „Ich stamme selber aus einer Gärtnerfamilie und habe mich darüber ausgiebig mit einem befreundeten Baumpfleger unterhalten. Er meinte, das macht nur dort Sinn, wo Büsche zu mächtig werden. Durch dauernden Radikalschnitt dagegen raubt man den Vögeln die Nistmöglichkeit und bei Beerensträuchern auch die Nahrungsquelle.“ Weshalb sogar Raubvögel sich in die Dörfer und Privatgärten verirrten.

Raubvögel verirren sich in Privatgärten: Nahrungsquelle fehlt

„Wir hatten eine Eule bei uns im Baum am Haus und einen Sperber bei der Schwiegermutter, all das führe ich darauf zurück, dass die schneiden wie die Weltmeister“, berichtet Udo Müller.

„In Oberense hat Straßen-NRW die B 516 im Vogelschutzgebiet rasiert und die Gemeinde zugleich die Alte Bremer Straße. Da vermisse ich das Augenmaß. Die Vögel flüchten in den nächstbesten Baum, und dann schmeißt da einer auch seine Geräte an. Die Tiere können doch aufgrund der Biodiversitätsarmut nur noch in den Dörfern leben – kein Wunder, dass man in Soest solche Probleme mit den Krähen hat. Und dort, wohin sie fliehen, sind schon andere.“

Grünschnitt wird nicht sofort entfernt: Nester von Vögeln werden gehäckselt

Oscar Santos, Pressesprecher bei Straßen-NRW, hierzu: „Solche Arbeiten müssen allerdings bei der Unteren Naturschutzbehörde des Kreises angemeldet werden, und wir tun das. So sollte eigentlich vermieden werden, dass es zu solchen Überschneidungen kommt.“

Ähnliche Erfahrungen hat Barbara Kleine gemacht. Gerade erst habe auch sie einen Sperber aus ihrem Hühnerauslauf vertrieben: „Den fehlen immer mehr die hohen Bäume zum Nisten. Man stelle sich vor, in Ihrer Straße reißt einer ein Drittel der Häuser ab und sagt, deren Bewohner sollen jetzt bei denen aus den übrigen zwei Dritteln wohnen. Das geht nicht. Als der Grünschnitt da frisch lag, saßen da ganz viele Amseln drin. Wenn die anfangen, darin zu brüten, und wenn es dann erst entsorgt wird, dann werden die Nester gleich mit gehäckselt“, fürchtet sie.

Oscar Santos: „Wenn wir es tatsächlich mal nicht schaffen, den Grünschnitt sofort zu beseitigen, dann lassen wir ihn aus genau diesem Grund ganzjährig liegen.“

Bienen verhungern: Pollen gehen verloren

Als Bienensachverständige des Enser Imkervereins Ense hat Kleine besonders die Insekten im Blick: „Honigbienen schaffen drei bis fünf Kilometer. Wir haben aber auch Wildbienen, die schaffen es immer nur 80 Meter weit und brauchen dann ganz bestimmte Pflanzen zum Ausruhen. Im eigentlichen Ursprungshabitat, wo sie schlüpfen, ist dann nichts mehr da, da verhungern sie.“

Durch den Rückschnitt im Frühjahr gehe den Bienen einiges an Pollen verloren. „Damit füttern sie ihre Brut. Dazu gehören Haselnuss, Schlehe und Weide. Und wenn die Honigbienen bei diesen Temperaturen dafür nicht irrsinnig weit fliegen müssen, ist das viel besser für sie. Und viele Pflanzen brauchen die Hecken einfach als Schutz vor dem aktuell eisigen Wind.“

Auch reiße der Radikalschnitt ein Loch in die Nahrungskette: Verhungern die Insekten, können die kleinen Vögel ihre Brut nicht füttern, finden somit auch die Greifvögel keine Beute mehr.

So viel Gehölzarbeiten unverständlich:

Fachliche Rückendeckung erhalten sie alle von Birgit Beckers, der Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz (ABU) im Kreis Soest: „Das ist bei uns immer wieder Thema. Auch für uns ist es unverständlich, dass so viel an Gehölzarbeiten durchgeführt wird. Das hat deutlich zugenommen. Auch große Bäume werden weggenommen. Wenn sie eine Verkehrsgefährdung darstellen – klar.

Aber der Baum schlägt ja nicht wieder aus und entwickelt sich nicht wieder neu. Und nicht bei allen ist erkennbar, dass sie den Straßenverkehr gefährden. Diese Gehölze haben in der Tat eine hohe Bedeutung für die Artenvielfalt. Auf der ganzen Strecke fehlt dann ja auch im kommenden Jahr der Brutraum, bis die Büsche wieder ausreichend groß sind – und dann prompt wieder geschnitten werden. Aus Sicht der Ökologie und der Artenvielfalt ist das sehr zu hinterfragen. Durch das Auf-den-Stock-Setzen gehen Nahrung, Braut- und Lebensraum von Vögeln und Insekten verloren.“

Maßnahmen sind unumgänglich: Mehr Fingerspitzengefühl gewünscht

Aller Kritik zum Trotz: Alle sehen ein, dass einige Maßnahmen unumgänglich sind. Andreas Vetter: „Sicher, das lässt sich alles erklären mit dem Freihalten von Sichtachsen und anderen Gründen, aber man wünscht sich mehr Fingerspitzengefühl. Man hat den Eindruck, es wird auf Zuruf gearbeitet, dass durch die Mechanisierung mit großen Baggern mit Kneifkopf und Wallheckenscheren rabiater zur Sache gegangen wird.“

Er beobachtete bei den Maßnahmen, die der Kreis an der K 9, also am Fuchsweg vom Haarweg nach Bittingen vornahm: „Da sollten drei Bäume gefällt werden. Das war auch in Ordnung, man sieht es an den Stümpfen, dass sie von innen verfault waren. Aber auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurden auch drei dicke Eichen weggenommen.“

Bäume drohten auf Fahrbahn zu kippen: Wurzeln in losem Gestein

Birgit Kalle hierzu: „Die Eichen standen an einer steilen Böschung und wurzelten in losem Gestein, das arbeitet, während die Wurzeln weiter wachsen. Nach Jahrzehnten war das zu unsicher, die Bäume drohten irgendwann, auf die Fahrbahn zu kippen.“

Und noch ein Problem sieht Udo Müller: „Das Dramatische ist ja, Borkenkäfer und Trockenheit haben viel zerstört. Und dann wird beim bisschen Grün, das man noch hat, gesäbelt auf Teufel komm raus. Was wir brauchen, ist eine Zeitenwende beim Grünschnitt.“

Gespräch mit Kreis und Land suchen: Gemeinde will Problem angehen

Die Gemeinde indes will das Problem angehen. Bürgermeister Rainer Busemann: „Wir von der Gemeinde sind zwar selber keine Radikalschneider. Letztlich ist es auch eine Frage der Kapazitäten: Mal gib es an einer Stelle erhebliche Rückschnitte und dann ist dort für zwei bis drei Jahre Ruhe. Schneide ich dagegen immer im Jahrestakt und dann nur ein bisschen, ist der Aufwand erheblich größer.

Aber wir wollen mit gutem Beispiel vorangehen und kurzfristig einen Arbeitskreis aus Vertretern aus der Politik und aus dem Fachbereich Bauen und Gemeindeentwicklung, einberufen, die Themen besprechen, dort vorstellen, in welchen Intervallen in welchen Bereichen der Bauhof ausrückt, und dann gemeinsam schauen, was wir optimieren können. Sobald wir unsere Hausaufgaben gemacht haben, werden wir das Gespräch mit Kreis und Land suchen.“

Stellungnahme von Straßen-NRW

Ende letzten Jahres wurden im Verlauf der B 516 zwischen Ense-Niederense und Möhnesee-Günne Gehölzpflegemaßnahmen durchgeführt. Handlungsbedarf bestand aufgrund des Überwuchses durch Buschwerk in den Bereich der Bundesstraße als auch zu den rückseitig anliegenden Feldern bzw. Grundstücken.

Aufgrund der geringen Breite des Gehölzstreifens entlang der B 516 haben wir uns bewusst für eine ganzflächige Bearbeitung entschieden. Zur Regulierung einer stabilen Gehölzstruktur wurden Sträucher und junge Baumgruppen in Teilbereichen entfernt, um standsichere und erhaltenswerte Einzelbäume zu begünstigen.

Bei überdichten und instabilen Beständen bleibt oft nur die Möglichkeit des abschnittweisen „auf den Stock setzen“. Das heißt, dass Gehölze auf zehn bis zwanzig Zentimeter zurückgeschnitten werden, damit sie neu austreiben und vitale Triebe bilden. Was für Außenstehende häufig nach einem Kahlschlag aussieht, hilft der Natur dabei, sich zu verjüngen und neu aufzustellen.

Schon relativ kurze Zeit später, wenn die Pflanzen wieder ihre Triebe ausbilden, stellt sich ein ganz anderes Bild dar. Die verbleibenden Flächen sind durch ein gezieltes Läutern zur selektiven Förderung von dauerhaft stabilen Bäumen bearbeitet worden.

Durch die gewählte Arbeitsweise konnten wir eine mehrschichtige Gehölzbestockung schaffen und eine Mischung von Strauch- und Baumanteilen erreichen. Die entlang der B516 durchgeführten Gehölzpflegemaßnahmen sind der Naturschutzbehörde des Kreises Soest mitgeteilt worden. Einwände hierzu gab es nicht.

Das bei den Gehölzpflegemaßnahmen anfallende Schnittgut wird durch Straßen.NRW nicht „teuer verkauft“. Das beauftragte Unternehmen berücksichtigt den Ertrag durch den Holzverkauf bereits bei der Angebotsabgabe.

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