„Was man Kirche nicht zutraut“: Gemeindereferentin Katrin Kokenkemper zur Missbrauchs-Prävention

Die Gemeinde St. Lambertus hat 2019 ein Institutionelles Schutzkonzept entwickelt, in dem es um Intervention und Prävention von Missbrauch geht und Mitarbeiter der Pfarrgemeinde bilden sich dementsprechend fort.
Bremen – Als Reaktion auf die Missbrauchsvorwürfe der vergangenen Jahre haben Bistümer und Kirchengemeinden institutionelle Schutzkonzepte entwickelt, in denen es darum geht, Gefahrenpunkte zu erkennen, den Umgang miteinander kritisch zu betrachten und den Schutz von Kindern und Jugendlichen zu verbessern sowie im Verdachtsfall einzugreifen. Katrin Kokenkemper (49) ist mit Unterbrechungen seit 25 Jahren als Gemeindereferentin und ehrenamtlich im kirchlichen Rahmen tätig. Noch im November wird sie eine Fortbildung zur Schulungsreferentin für Prävention und eine Fortbildung zur Präventionsfachkraft abschließen. Redakteurin Karin Hillebrand erzählt sie, warum das wichtig ist.
Was macht eine Präventionsfachkraft?
Allen Schutzkonzepten liegt unser christliches Menschenbild, das zugleich auch gesellschaftlicher Anspruch ist, zugrunde: Jedem das Leben zu ermöglichen. Das Konzept der St.-Lambertus-Gemeinde ist von 2019. Die Präventionsfachkraft trägt in der Pfarrei Sorge dafür, dass dieses Konzept umgesetzt wird und dass es in der Öffentlichkeit auch bekannt ist. Sie ist das Gesicht der Prävention und Ansprechpartnerin. Ich werde zu Beginn in die Gruppen und Gremien gehen, wie den Pfarrgemeinderat oder den Kindergottesdienstkreis und klar machen: Sprecht mich bei Fragen an, ich gucke mit euch, was notwendig ist.
Und der Schulungsreferent Prävention?
Der Schulungsreferent sorgt dafür, dass jeder – Küster, Organist, Gruppenleiter, Ferienfreizeitleiter – eine passende Fortbildung durchläuft. Die Ausbildung läuft über das Bistum, wir können dann auch von anderen Pfarreien angefragt werden. Bei hauptamtlichen Mitarbeitern ist es arbeitsrechtlich vorgesehen, jeder bekommt zu Beginn eine Schulung und alle fünf Jahre eine Auffrischung. Das ist unter kirchlichen Mitarbeitern eine ganz große Selbstverständlichkeit. Im ehrenamtlichen Bereich gucken wir, dass dort entsprechend geschult wird. Wenn es um Zuschüsse geht, dann wird das ohnehin vorausgesetzt. Für Jugendliche gehört Prävention in der Ausbildung für die Jugendleiterkarte dazu.
Was ist mit den ehrenamtlichen „Urgesteinen“?
Auch das ist eine Aufgabe. Bei den einen ist das Interesse hierfür schon vorhanden, andere sagen: „Das haben wir noch nie gebraucht.“ Wenn wir mit denen dann auf die Situation der Kirche schauen und erklären, dass es nicht um einen Generalverdacht geht, sondern transparent mit dem Thema umzugehen, dann sind sie doch sehr bereit, sich mit dem Thema Prävention zu beschäftigen.
Kommt man auf Sie zu?
Ja. Deshalb spreche ich auch darüber. Prävention ist ein Thema, das wir präsent halten müssen und nicht erst angehen, wenn die nächste Studie veröffentlicht wird oder ein Fall in der Zeitung steht. Prävention ist etwas, dass unser Handeln selbstverständlich begleitet.
Als Haltung?
Ja, es ist eine Haltung. Bei ihrer Entwicklung greifen heute viele Bereiche ineinander: Schon im Kindergarten geht es um das Thema „Mein Körper gehört mir“, in der Schule darum „Nein“ zu sagen, Grenzen aufzustellen und zu setzen. Und es geht darum, darüber zu reden, wenn Dinge passieren, die ich nicht möchte. Diese Kinder, Jugendlichen und Eltern sehen, dass auch wir darüber reden. Es ist ja nicht nur, sondern auch Thema von Kirche.
Es geht also um Stärkung von Kindern und Jugend?
Das ist eines unserer Grundanliegen: Die Befähigung, Grenzen zu setzen und eigene Anliegen zu formulieren. Aus starken Kindern werden starke Erwachsene, die keine Macht brauchen, um ihre Wünsche zu vertreten. Denn beim Thema Missbrauch und Übergriffe geht es ganz oft um Macht und Machtgefälle.
Können Kinder sich schon äußern, wenn ihnen etwas passiert?
Da sind wir in der Intervention: Man geht davon aus, dass ein Kind etwa sieben Versuche unternimmt, bis es überhaupt gehört wird – das ist erschreckend. Wir wollen offene Ohren haben, auch für Dinge, die Kinder in anderen Zusammenhängen erfahren. Wir betrachten das Kind in seiner Ganzheit. Auch hierfür braucht es Schulungen, damit unsere Mitarbeiter Signale erkennen und damit umgehen können und wissen, an welche Stellen sie sich dann wenden. Sie sind dann Anwalt und Rückgrat der Kinder zugleich.
Es wird häufig von sexualisierter Gewalt gesprochen, was ist das?
Sexualisierte Gewalt geht über einen eigentlichen sexuellen Übergriff hinaus. Es geht dabei um Fotos, Medien und Sprache. Beispiel Wortwahl: Wenn Jugendliche zueinander „Du Hure“ sagen, dann ist körperlich noch nichts passiert, aber die Seele wurde angegriffen. In unseren Gruppen ist uns daher eine wertschätzende Sprache wichtig. Was bei Jugendlichen auch verstärkt geschieht ist das weiterschicken von Fotos. Oder jemand wird gedrängt, Fotos zu machen, beispielsweise in der Umkleidekabine im Schwimmbad.
Haben Sie hier Erfahrungen damit gemacht?
Ich habe keinen konkreten Fall aus Ense im Auge, aber ich bin während meiner Tätigkeiten schon damit konfrontiert gewesen. Es gab schon Situationen, die einer Klärung bedurften, nicht strafrechtlich relevant, aber im Verhalten unangemessen. Das ist die niedrigste Schwelle, an der wir versuchen, einzugreifen. Alle, die sehr aufmerksam mit dem Thema umgehen, werden immer wieder mit solchen Situationen konfrontiert. Wie gehen wir damit um? Wir haben eine Null-Toleranz-Grenze und greifen sofort ein.
Haben Sie ein Beispiel dazu?
Wir fangen schon bei den Jüngsten an, sagen ihnen, zu schauen, wie sie miteinander umgehen. Wir reden hier nicht über Missbrauchsfälle, sondern über Dinge, die jedem irgendwie bewusst sind. Dabei geht es auch um die eigene Wahrnehmung: Wie viel Nähe und Distanz mag ich haben? Es kann sein, dass jemand sagt, er mag nicht zur Begrüßung umarmt werden. Das muss derjenige dann auch sagen und in der Gruppe besprechen können. Das Thema Körperlichkeit im Jugendalter. Mag ich mit meiner Gruppe ins Schwimmbad gehen oder fühle ich mich mit meinem Körper gerade unsicher? Solche Sachen sprachfähig machen, das ist wichtig. Wenn ich über Prävention spreche, muss ich über das Thema Sexualität sprechen können. Ich glaube, das ist etwas, was man uns als Kirche nicht zutraut, was wir aber eigentlich schon sehr gut können.
Warum ist das so?
Es sind in den letzten Jahrzehnten viele Fehler gemacht worden, die dürfen wir nicht verschweigen. Wenn Sexualität immer nur negativ besetzt und als Sünde oder als Verbot genutzt wurde, dann macht es die Sache nicht gerade einfach, darüber zu sprechen. Das waren Zeiten, aus denen jetzt die Dinge vermehrt ans Tageslicht kommen und in denen die kirchliche Sexualmoral den Menschen an sich schon ein sehr schlechtes Bild vermittelt hat.
Haben Sie den Eindruck, dass kirchliche Mitarbeiter froh darüber sind, dass das Thema besprochen wird?
Die Studien haben viele erschüttert. Ich kann für mich und alle, mit denen ich zusammen arbeite, sagen, dass wir offen und bereit sind, das Thema anzugehen. Niemand kann das ungeschehen machen und wir sind sicherlich auch Teil der Struktur, die dazu beigetragen hat. Aber wir können in unserem Bereich von heute an alles dafür tun, dass so etwas immer weniger passieren kann. Die große Gefährdung liegt erschreckenderweise immer noch im Bereich Familie und familiäres Umfeld.
Das Institutionelle Schutzkonzept enthält einen umfangreichen Verhaltenskodex. Was hat es damit auf sich?
Darin sind alltägliche Dinge enthalten, auf die wir aufmerksam machen und für die wir sensibilisieren wollen. Was empfinde ich als normal, was als nicht normal. Darf ich mich als Gruppenleiter bei einem Kind an die Bettkante setzen? Natürlich nicht. Darf ich das, wenn das Kind weint? Wie gehe ich damit um? Dann frage ich das Kind: „Was kannst du gerade brauchen, soll ich dich einmal eben in den Arm nehmen?“ Ich würde das niemals einfach so machen. Dem einen Kind könnte es helfen, bei dem nächsten wäre es übergriffig und bei einem weiteren vielleicht sogar verstörend. Es geht aber auch darum, darauf zu achten, dass wir nicht in Abhängigkeit geraten, beispielsweise durch Geschenke, oder andere unter Abhängigkeit ausnutzen. Man kann Feriengruppen am Lagerfeuer fotografieren, das muss nicht im Schwimmbad oder beim Gang zum Waschhaus sein. Früher waren Mutproben im Zeltlager normal, heute müssen wir unterschiedliche Grenzen wahrnehmen und den Einzelnen darin bestärken, nein zu sagen.
Wie sieht es im Erwachsenenalter aus?
Das Thema greift auch im Erwachsenenalter und da vor allem im Bereich schutz- und hilfebedürftiger Erwachsener. Dies rückt im kirchlichen Rahmen erst langsam nach vorne. Da sind wir zum Beispiel bei unseren Seniorengruppen. Was ist mit Pflege, mit Hilfe bei Toilettengängen, beim Ein- oder Aussteigen aus dem Auto. Auch hier gelten diese Regeln. Auch hier sind Präventionsfachkräfte Ansprechpartner. Wir können nicht alles Schwierige verbieten, aber wir können immer schauen, wie wir es machen. Braucht ein Messdiener Hilfe beim Anziehen des weißen Rochetts, dann kann ich fragen, ob ich helfen darf. Statt das Gewand vorne an der Brust glatt zu streichen, sage ich: „Geh doch mal zum Spiegel.“
Haben Sie den Eindruck, dass es einen Unterschied in der Wahrnehmung männlicher und weiblicher Personen gibt?
Nein. Was ich wahrnehme ist, dass Priester übervorsichtig geworden sind. Befreundete Priester sagten mir, der ständige Generalverdacht könne sehr zehrend sein. Dabei sind nur 0,1 Prozent aller Täter Priester. Und auch im Bereich der Kirche sind es längst nicht nur die Pastöre.
Glauben Sie, dass Senioren Probleme haben, so etwas anzusprechen?
Senioren sind aufgrund ihrer Erziehung gefährdet. Sie kommen aus einer Generation, in der es aufgrund der damaligen Sexualmoral von Kirche und Gesellschaft keine Sprachfähigkeit für Sexualität gibt. Dann kann ich natürlich auch nicht darüber sprechen, wenn mir Unrecht angetan wird. Ganz oft ist das Bild da: Was nicht sein darf, das gibt es auch nicht. Jemand, der nichts sagt, der ist ein einfaches Opfer. Ist jemand stark und hat ein gutes soziales Netzwerk, da ist die Gefahr viel zu groß, dass derjenige es weiter gibt. Jemand, der einmal im Monat zum Seniorenkaffee rauskommt und den ganzen Monat auf dieses Highlight wartet, der wird nichts sagen, wenn ihn jemand beim ins Auto helfen unangemessen berührt und mehr tolerieren, als der, der auf diese Fahrt nicht angewiesen ist.
Wer wird zu einem Täter?
Jemand, der eine Möglichkeit hat, Macht auszuüben und sich sicher ist, damit nicht aufzufallen. Er versucht es erst in kleinen Dingen, mit einer Berührung vielleicht. Wenn nichts passiert, geht er bei der nächsten Möglichkeit weiter. Ein Übergriff ist meist nichts Spontanes, sondern etwas, was sich langsam anbahnt. Täter sind oft gut eingebunden und können das ausnutzen. Das ist ein ganz eigener Bereich der Präventionsschulung. Auch für Täter, wir nennen das mittlerweile „Beschuldigte“, sind wir Ansprechpartner, es gibt aber auch spezielle Anlaufstellen. Auch Täter haben ein Recht auf Hilfe, sollen diese bekommen, um nicht mehr schuldig zu werden – je früher, desto besser.