Kinderkurheime waren eine Welt für sich

Eine Verschickung auf Kinderkur war in Deutschland für viele Jahrzehnte geradezu eine Standardmaßnahme der Gesundheitsfürsorge. Das galt vor allem für Kinder aus den Großstädten und Industrieregionen und für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit all den Kriegsschäden und der Mangelversorgung. Statt Erholung und kindgerechter Betreuung erlebten viele „Verschickungskinder“ jedoch gewaltsame Strukturen, Misshandlungen und Traumata. Einen bedeutenden Erklärungsansatz, wie es zu diesen Missständen kommen konnte, bietet das soeben erschienene Buch „Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ von Professor Dr. Hans-Walter Schmuhl.
Bad Sassendorf – Aus Bad Sassendorfer Sicht erscheint die Studie auch deshalb interessant, weil die DAK und ihre Vorläufer mit „Haus Hamburg“ vor Ort von den 1920er Jahren bis 1985 eine namhafte Kinderkurklinik betrieben haben. In Betrieb gegangen war die Einrichtung als „Anton-Tarnowski-Heim“ bereits 1928/1929. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg belegte die DAK zudem weitere Vertragsheime wie die Kinderheilanstalt Bad Sassendorf. Hans-Walter Schmuhl erläutert in der Studie, die von der Krankenkasse zwecks Aufklärung in Auftrag gegeben wurde, insbesondere, wie das soziologische Konzept der „Totalitären Institutionen“ die gewaltsame Behandlung erklären kann.
Wichtig erscheint dabei die Erkenntnis, dass diese Strukturen, die eine ziemlich bedingungslose Unterordnung der Kinder unter die Abläufe der Kinderkurheime begünstigt haben, in der Regel von Trägern und Pflegepersonal nicht bewusst gestaltet wurden. Der Wille zu einer gelingenden Kur kann vielen wohl nicht abgesprochen werden. Beengte räumliche Verhältnisse oder knappe Ressourcen beim Personal haben die Rahmenbedingungen mitbestimmt. Die Unterordnung der Kurkinder sollte reibungslose Abläufe gewährleisten.
Zum 1. März 1959 konnte die DAK die Klinik, die während des Krieges und einige Zeit danach unter anderem als Lazarett und als Krankenanstalt der Stadt Dortmund diente, wieder in Betrieb nehmen. Die seinerzeit getätigten Investitionen und das damit verbundene Konzept sollten den Kindern durchaus gute Bedingungen bieten. Trillerpfeife und Anschnauzen werde es nicht geben, man werde die kleinen Gäste durchaus an der „langen Leine“ führen, zitiert Schmuhl Aussagen des DAK-Hauptgeschäftsführers gemäß einem zeitgenössischen Artikel der „Westfalenpost“.
Die Kurkinder wurden in eine in sich geschlossene, räumlich beengte Welt versetzt, in der sie dem Personal ausgeliefert waren und sich in eine rigide Ordnung einfügen mussten.
Die Wirklichkeit, so Schmuhl, habe aber anders ausgesehen: „Die räumlichen Rahmenbedingungen (wie auch der Personalschlüssel) ließen die Kuren trotz gegenteiliger Intentionen zu Massenveranstaltungen werden.“ Knappe Ressourcen sieht Schmuhl als wichtige Ursache für die Auswüchse in den Kinderkurheimen. Bei der Analyse von Gewaltverhältnissen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und der Psychiatrie habe das Konzept der „Totalen Institutionen“ seine Erklärungskraft eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Nach einem Kapitel mit theoretischen Vorüberlegungen folgt die Wiedergabe dessen, was ehemalige Kurkinder in Interviews beschrieben haben. Diese Erlebnisse decken sich mit jenen, die in den vergangenen Jahren immer wieder von „Verschickungskindern“ geschildert wurden, wie Aufessen von Erbrochenem, Bloßstellung vor den anderen Kindern, strenge Vorschriften bezüglich Nachtruhe und Toilettengängen.
Schmuhl kommt danach zu dem Ergebnis, „dass die von der DAK genutzten Kinderkurheime – soweit darüber Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vorliegen – die wesentlichen Merkmale einer ,totalen Institution’ aufwiesen“. Dazu gehöre auch die Abschottung der Kurkinder gegenüber der Außenwelt. Insbesondere die Kontakte zu den Eltern und Familien hätten der Kontrolle durch die Einrichtungen unterlegen. Auch das Gelände der Einrichtungen hätten die Kinder nur unter Aufsicht verlassen dürfen. Zudem seien die Ressourcen an Personal oder an Platz begrenzt gewesen.
So hätten die Betreuerinnen in der Regel in Zwölf-Stunden-Schichten bis zu 20 Kinder gleichzeitig betreuen müssen. Dies habe zu einem rationellen Betriebsablauf geführt. Schmuhl: „Die Kurkinder wurden in eine in sich geschlossene, räumlich beengte Welt versetzt, in der sie dem Personal ausgeliefert waren und sich in eine rigide Ordnung einfügen mussten, die alle Lebensäußerungen bis hin zum Toilettengang regelte. Die Organisationslogik legte es dem Personal nahe, durch ein strenges Reglement, eine möglichst lückenlose Kontrolle und die konsequente Sanktionierung abweichenden Verhaltens reibungslose Betriebsabläufe sicherzustellen.“ Diese Umstände hätten bei vielen Kindern trotz der Kürze der Kur tiefe Spuren hinterlassen.
Bleibt die Frage, warum diese Missstände seinerzeit nicht aufgefallen sind. Beschwerdebriefe von Eltern, zum Beispiel an die DAK, hat es durchaus gegeben. Wie Schmuhl berichtet, wurden Beschwerden jedoch als Einzelfälle abgetan. Stattdessen sei durch Prospekte, Postkarten und andere Materialien eine positive Außendarstellung vermittelt worden.
Hinzu kommt, dass insbesondere auch die Kontrolle der Kureinrichtungen durch die staatlichen Einrichtungen nicht sehr gut funktionierte. So schildert Schmuhl, dass die Landesjugendämter, die die Rechtsaufsicht über die Kinderkureinrichtungen ausübten, diese Aufgabe angesichts der schieren Masse an Kinderkurheimen allenfalls stichprobenartig ausübten. Oft sei es bei einem formalisierten Kontrollverfahren per Fragebogen geblieben. Zu einer Besichtigung von Haus Hamburg durch das Kreisjugendamt Soest kam es demnach erst im Jahr 1967. Dabei wurde bezüglich der Ausstattung einige Anregungen gegeben. Auch der verbindliche Toilettengang aller Kinder nach den Mahlzeiten wurde kritisiert; besser sei es, zumindest den Schulkindern hier mehr Selbstständigkeit einzuräumen. Mehr als die Alltagsroutine, so Schmuhl, hätten die Kontrolleure jedoch nicht besichtigen können, weiter habe die Kommission nicht in den Alltag des Kinderkurheims eindringen können.
Fazit: Die Studie liefert viele wichtige Erklärungsansätze, warum es zu den gravierenden Missständen im Kinderkurwesen kommen konnte. Damit stützt die Studie die Forderung der „Verschickungskinder“ und ihrer Institutionen nach Aufklärung und Anerkennung ihres Leids. Gerade die Probleme bei der Aufsicht durch die Landesjugendämter oder Kreisjugendämter erfordern weitere Nachforschungen.
Hans-Walter Schmuhl: Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Döllitz und Galitz Verlag, München und Hamburg 2023.