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Nach der Kinderkur erst richtig krank

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Von: Ludger Tenberge

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Zahlreiche Referenten und Experten beleuchten im Tagungszentrum das Schicksal der Verschickungskinder. Der Kongress, zu dem die Bundesinitiative um Anja Röhl (am Ende des Plakats links) eingeladen hat, begann Donnerstagabend mit einer Ausstellungseröffnung und endete am Sonntag.
Zahlreiche Referenten und Experten beleuchten im Tagungszentrum das Schicksal der Verschickungskinder. Der Kongress, zu dem die Bundesinitiative um Anja Röhl (am Ende des Plakats links) eingeladen hat, begann Donnerstagabend mit einer Ausstellungseröffnung und endete am Sonntag. © Peter Dahm

Die dunklen Seiten des Kinderkurwesens in Deutschland sind erst seit einigen Jahren in der öffentlichen Debatte. Seit den ersten Berichten der einstigen „Verschickungskinder“ sind Aufarbeitung und Erklärungsansätze für die teils erschreckenden Auswüchse durchaus vorangekommen. Vieles ist jedoch noch im Unklaren und bedarf einer umfassenden und bundesweiten Aufarbeitung. So lassen sich erste Ergebnisse des vierten Fachkongresses über das Elend der Verschickungskinder zusammenfassen.

Bad Sassendorf – Als ein Ziel sollte der Kongress im Tagungszentrum daher mit der „Bad Sassendorfer Erklärung“ konkrete Forderungen formulieren (siehe Info-Kasten am Ende). Das erläuterte Anja Röhl, die Gründerin der Bundesinitiative der Verschickungskinder, gegenüber dieser Zeitung. Als besonders empörend wird die Haltung der Bundesregierung empfunden, die nach Gesprächen mit Betroffenenvertretern eine Zuständigkeit des Bundes verneint hatte.

Doch auch auf der Ebene der Bundesländer gibt es erhebliche Unterschiede. Lob gab es in diesem Zusammenhang für das Land NRW, das bezüglich der Aufklärung als führend angesehen werden kann. Dies betonte Referent Christian Fritsch vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. NRW hoffe, mit der Installation eines Runden Tisches, der Förderung der Archivarbeit oder einer Studie zum Medikamentenmissbrauch bei Verschickungskindern zum Vorbild für die anderen Landesregierungen zu werden.

Grußworte und Vorträge zum Thema standen am Freitag auf dem Programm, im weiteren Verlauf gab es unter anderem Workshops und Möglichkeiten zum gemeinsamen Austausch.
Grußworte und Vorträge zum Thema standen am Freitag auf dem Programm, im weiteren Verlauf gab es unter anderem Workshops und Möglichkeiten zum gemeinsamen Austausch. © Peter Dahm

Fritsch’ Einschätzungen wurden von den Landtagsabgeordneten Dennis Maelzer (SPD) und Charlotte Quik (CDU) und auch von Anja Röhl ausdrücklich geteilt. So wies Röhl darauf hin, dass NRW die Aufklärungsarbeit mit einem Betrag von 500 000 Euro für ein entsprechendes „Citizen-Science-Projekt“ unterstützt. Die Gründerin der Bundesinitiative verweis dabei auch auf die Fortschritte, die seit 2019 erreicht worden seien. Inzwischen, so Röhl, seien unabhängige Wissenschaftler von zehn verschiedenen Universitäten mit Forschungen zum Thema beschäftigt. Die Initiative habe ein Archiv mit mehr als 10 000 Zeitzeugenberichten geschaffen. 40 000 Menschen hätten bereits die Petition unterzeichnet, mit der der Bund aufgerufen wird, die Aufklärungsarbeit zu unterstützen.

Die weitverbreiteten Auswüchse des früheren Kinderkurwesens verdeutlichte Anja Röhl mit dem Bericht eines ehemaligen Kurkindes, das 1977 im Alter von neun Jahren von Hildesheim aus für sieben Wochen zur Kinderkur nach Bad Sassendorf geschickt worden war. Dessen Erlebnisse – Misshandlungen, ungenießbares Essen, Bloßstellungen im Beisein der anderen Kinder, zensierte Briefe – deckten sich mit dem, was viele „Verschickungskinder“ erlebten.

Wie sind diese Entwicklungen zu erklären, wo doch die Kurmaßnahmen eigentlich dem Wohl der Kinder dienen sollten? Dieser Frage gingen am Freitag die Vorträge von Dr. Lena Krull, Prof. Dr. Hans Walter Schmuhl, Prof. Dr. Marc von Miquel, Prof. Dr. Ilona Yim und Dr. Marie Schreiter nach. Die Wissenschaftler vermittelten dabei zugleich einen aktuellen Stand der noch jungen Forschungen über die Kinderverschickungen.

Konzept der „Totalen Institution“

Einen Erklärungsansatz, warum sich in sehr vielen Kinderkurheimen ähnliche, rigide Strukturen herausgebildet haben, bietet Schmuhl zufolge das Konzept der „Totalen Institution“, wie es der Soziologe Erving Goffman Anfang der 1960er-Jahre entwickelt hat. Wichtig sei bei diesem Erklärungsansatz das Gegenüber von Insassen und Personal. Eine zentrale Aufgabe für Einrichtungen wie letztlich eben auch Kinderkurheimen sei die Sicherung reibungsloser Abläufe. Bei knappen Ressourcen, gerade das Personal betreffend, entstünden schnell Strukturen, die eine Unterordnung der Insassen fordern, ergänzt um demütigende Strafen, sofern Insassen den reibungslosen Ablauf stören.

Solche Tendenzen waren auch bei den Schilderungen ehemaliger Mitarbeiterinnen der Bad Sassendorfer Kinderheilanstalt erkennbar, die Lena Krull von der Uni Münster aufgrund des gemeinsamen Forschungsprojekts mit dem Museum Westfälische Salzwelten erläuterte. So schilderte sie den Tagesablauf vom Wecken um 7.30 Uhr über die strikte Mittagsruhe nach dem Essen bis zur Nachtruhe schon ab 19 Uhr. Diese Struktur sei auf die tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiterinnen ausgerichtet gewesen, nicht auf die Bedürfnisse der Kinder.

Es ist klar, dass auch in Bad Sassendorf schlimme Dinge passiert sind.

Bürgermeister Malte Dahlhoff

Wie wichtig die Aufarbeitung ist, betonte Bürgermeister Malte Dahlhoff in seinem Grußwort: „Es ist klar, dass auch in Bad Sassendorf schlimme Dinge passiert sind.“ Die Misshandlungen, die die Kinder in den Kinderkuren erleben mussten, seien unentschuldbar und beschämend. Es gelte dafür zu sorgen, dass so etwas nicht wieder passiert.

Forderungen an Bund, Länder und Träger

Auf dem vierten Fachkongress zum Thema Verschickungskinder wurden die Ergebnisse der vorangegangenen Kongresse mit der „Bad Sassendorfer Erklärung“ weiter konkretisiert. Dies mündete auch in mehrere Forderungen an Bund, Länder und Träger der einstigen Kinderkurheime. Gefordert werden:

Eine bundesweit tätige Anlaufstelle zur Beratung und Vernetzung Betroffener und für die Unterstützung der Landes- und Heimortgruppen.

Ein partizipativ ausgerichtetes wissenschaftliches Verbundvorhaben von einschlägig qualifizierten Forschungseinrichtungen, das die zahlreichen Erlebnisberichte auswertet und die Bürgerforschungsgruppen vor Ort bei ihren eigenen Recherchen und Aktivitäten wie Schaffung von Gedenkorten begleitet.

Ein Dokumentationszentrum, in dem die vielfältigen Zeugnisse der Betroffenen und die Rechercheergebnisse der Bürgerforschung archivgerecht aufbereitet und der Öffentlichkeit (auch in digitaler Form) zugänglich gemacht werden.

Außerdem erinnert die „Bad Sassendorfer Erklärung“ an Aussagen der Bundesregierung im Koalitionsvertrag vom November 2021. Darin habe die Bundesregierung das Ziel formuliert, den Kinderschutz stärken zu wollen. Die Initiative der Verschickungskinder appelliere daher an die politisch Verantwortlichen, auch auf Bundesebene die Grundlagen für eine angemessene Aufarbeitung der millionenfachen Kinderrechtsverletzungen zu schaffen.

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