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Kongress beleuchtet Kinderkuren und ihre Folgen

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Von: Ludger Tenberge

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„Kinderkuren als Kernstück der Gesundheitsvorsorge“: Dahinter gehört ein dickes Fragezeichen, erläutert Historikerin Dr. Lena Krull in einem Videovortrag für die Internetseite des Soester Geschichtsvereins.
„Kinderkuren als Kernstück der Gesundheitsvorsorge“: Dahinter gehört ein dickes Fragezeichen, erläutert Historikerin Dr. Lena Krull in einem Videovortrag für die Internetseite des Soester Geschichtsvereins. © Tenberge, Ludger

Bis in die 1980er Jahre war das Kinderkurwesen in Deutschland ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, und auch Bad Sassendorf hat diesem Bereich des Gesundheitswesens viel zu verdanken. Dass die Betreuung der Kurkinder jedoch auch sehr dunkle Seiten haben konnte, belegen die Schilderungen ehemaliger „Verschickungskinder“. Mitte September findet zu diesem Thema ein mehrtägiger Fachkongress im Tagungszentrum Bad Sassendorf statt.

Bad Sassendorf – Seit einigen Jahren kommt die Aufarbeitung der Kinderkuren zunehmend auf Touren. In Bad Sassendorf dürfte demnächst ein weiterer wichtiger Schritt erfolgen: Vom 15. bis 18. September findet im Tagungs- und Kongresszentrum der vierte Fachkongress der „Bundesinitiative Verschickungskinder“ statt. Der erste Kongress wurde 2019 auf Sylt durchgeführt.

Dass die kommende Tagung unter der Überschrift „Das Elend der Verschickungskinder“ einiges an neuen Erkenntnissen liefert, lässt das Programm erwarten. So stehen am Freitag, 16. September, nach der Begrüßung der Teilnehmer mehrere Vorträge von ausgewiesenen Experten an. Anja Röhl von der Bundesinitiative Verschickungskinder wird zunächst „Neue Aspekte der Kinder-Verschickung im Jahre 2022“ erläutern. Danach folgt ein Vortrag von Dr. Lena Krull von der Uni Münster, die das Kinderkurwesen in Bad Sassendorf in Kooperation mit dem Museum Westfälische Salzwelten erforscht. „Kinderkurheime in Bad Sassendorf. Forschungsergebnisse und Aufarbeitung im Ort“, lautet Krulls Referat.

Professor Dr. Hans Walter Schmuhl folgt mit dem Vortrag „Kinderkurheime in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinuitäten, Kontexte und vergleichende Perspektiven“. Schmuhl wird das Thema Verschickungen eingehend historisch beleuchten und dabei auch sein im Januar 2023 erscheinendes Buch mit einer empirischen Studie über Verschickungsheime der DAK vorstellen. Dies dürfte auch für Bad Sassendorf von Interesse sein, da hier bis 1984 das DAK-Kinderheim „Haus Hamburg“ bestanden hat.

Professor Dr. Marc von Miquel hält danach den Vortrag „Zur Verschickung tuberkulosekranker Kinder: Historischer Kontext, Fallbeispiele, Medikamentenversuche“. Dass in einzelnen Kinderkurheimen in Deutschland aus heutiger Sicht unzulässige Medikamentengaben und sogar Medikamentenversuche gab, ist eine der schockierenden Erkenntnisse, die sich aus den Schilderungen von Verschickungskindern ergeben haben.

Weitere Programmpunkte behandeln erste Ergebnisse von Traumastudien über die Auswirkungen von Kinderverschickungen in Deutschland, das Thema Kinderkuren in der DDR oder die Frage nach der Recherche in Archiven. Zusammengeführt werden die verschiedenen Erkenntnisse am Samstag, 17. September, ab 11.30 Uhr bei einer Podiumsdiskussion mit den Experten und Kongressteilnehmern.

Zugleich soll die Tagung den Teilnehmern, darunter insbesondere ehemalige Verschickungskinder, verschiedene Möglichkeiten des Austausches und der Vernetzung bieten. Abgerundet wird die Tagung unter anderem durch eine Ausstellung zum Thema „Wunde Würde – bedrängte Erinnerung: Verschickungskinder“ von Heike Fischer-Nagel, die am Donnerstag, 15. September, eröffnet wird. Geplant sind außerdem diverse Kleingruppen oder auch ein Spaziergang durch Bad Sassendorf zu den Standorten der früheren Kinderkurheime.

Mehr zum Programm und den Anmeldeformalitäten findet sich hier

Aufarbeitung des Kinderkurwesens

Laut der „Bundesinitiative Verschickungskinder“ wurden mehr als acht Millionen Kinder von 1950 bis 1980 in der alten Bundesrepublik verschickt, oft in Sonderzügen und schon ab dem Kleinkindalter. Zehntausende dieser Kinder seien dabei Opfer von Demütigungen oder schweren Bestrafungen geworden. Einige Kinder hätten sogar den Tod gefunden. Die Bundesinitiative fordert deshalb die Anerkennung dieses Leids, die Unterstützung der Betroffenen und eine Untersuchung der Hintergründe. Zu dem Kongress werden etwa 100 Teilnehmer erwartet. Thema dürfte beim Kongress auch die bereits laufende Online-Petition sein, die sich gegen eine Mitteilung des Bundesfamilienministeriums vom 7. Juli 2022 richtet, wonach sich die Bundesregierung für nicht zuständig erklärt und eine Unterstützung verweigert hat. Die Petition steht unter www.change.org/verschickungskinder

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