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Als kleines Kind auf Kinderkur

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Von: Ludger Tenberge

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Als Kind auf Kinderkur, dazu hatte Oda Wiesner (Dritte von rechts) einen interessanten Vortrag vorbereitet, unterstützt durch Manfred Potthast, der die Bilder und Dokumente digitalisiert hatte. Über ein reges Interesse freuten sich vom Vorstandsteam der Frauenhilfe (vorne von links) Monica Busse, Karin Potthast, Reinhild Anemüller und Pfarrerin Stefanie Pensing.
Als Kind auf Kinderkur, dazu hatte Oda Wiesner (Dritte von rechts) einen interessanten Vortrag vorbereitet, unterstützt durch Manfred Potthast, der die Bilder und Dokumente digitalisiert hatte. Über ein reges Interesse freuten sich vom Vorstandsteam der Frauenhilfe (vorne von links) Monica Busse, Karin Potthast, Reinhild Anemüller und Pfarrerin Stefanie Pensing. © Peter Dahm

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Millionen Kinder in Deutschland eine Erholungskur verschrieben. Viele haben die dort gemachten Erfahrungen als traumatisierend erlebt. Auf Einladung der Frauenhilfe berichtete Oda Wiesner von ihren drei Kinderkurmaßnahmen, und schilderte dabei ein differenziertes Bild.

Bad Sassendorf – Die Zeichnung der kleinen Oda zeigt alles, was Kinderherzen gerne mögen: Im Zentrum steht der grüne Kurpark, gleich daneben ist der große Spielplatz abgebildet, rechts wandert ein Trupp Kurkinder daher. „Kurkinder, die in Reih und Glied durch den Ort laufen und Lieder singen, die hat es ja tatsächlich gegeben“, berichtete Oda Wiesner.

Für die evangelische Frauenhilfe Bad Sassendorf hat die Lohnerin ihre ganz persönlichen Erinnerungen an insgesamt drei Aufenthalte als Kurkind aufgearbeitet. Seit den verschiedenen Initiativen der so genannten Verschickungskinder rückt das Thema Kinderkurwesen zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit, gerade auch in Bad Sassendorf, das viele Jahrzehnte geradezu ein Zentrum des Kinderkurwesens gewesen ist.

Das Bild, das Oda Wiesner geborene Sängerhoff als Kind im Fach Heimatkunde an der Lohner Schule gemalt hat, dokumentiert einen kindlichen Blick auf den Kurort, Anklänge an ein idyllisches Kinderkurwesen. Oda Wiesner vermittelte mit ihren persönlichen Erinnerungen an ihre teils viele Monate dauernden Kuraufenthalte aber ein differenziertes Bild. Missstände, wie sie von vielen einstigen Verschickungskindern seit einigen Jahren geschildert werden, führte sie ebenfalls an: wie sie einmal das erbrochene Spinatgemüse erneut aufessen musste; wie das Schreiben der Postkarten an die Eltern an den wöchentlichen Posttagen von den Pflegerinnen beaufsichtigt wurde; wie es im Kinderkurheim St. Michael in Bühl im Allgäu einmal eine heftige Ohrfeige setzte, weil das Kind bei einem Spaziergang den Anschluss verloren hatte und viel zu spät zum Mittagessen kam. Diesen Schilderungen folgten die vielen Zuhörer beim Treffen der Frauenhilfe im Mehrgenerationenhaus erkennbar mit viel Mitgefühl.

Oda Wiesner ordnete die Erlebnisse zugleich jedoch in einen allgemeinen Rahmen ein. 1946 nach aufreibender Flucht der Eltern geboren, waren Oda, ihr älterer Bruder Hanno und ihre Eltern Ruth und Egon Sängerhoff wie so viele andere Menschen der damaligen Zeit arg mitgenommen. „Alle waren sehr schlecht ernährt und sehr häufig krank“, erklärte Oda Wiesner. Hinzu kamen die improvisierten Wohnverhältnisse ohne fließend Wasser, ohne Heizung und mit Plumpsklo auf dem Hof. Hinzu kam später der frühe Tod des Vaters, der in Lohne unter vielen Entbehrungen eine Arztpraxis aufgebaut hatte. Bei dem kleinen Mädchen äußerte sich dieser Hintergrund in einer langwierigen Tuberkuloseerkrankung, die erst nach einer Behandlung in der Kinderklinik Dortmund und drei längeren Kuraufenthalten – zwei Mal im Haus Hamburg in Bad Sassendorf, einmal in dem Jugendkurheim im Allgäu – langsam auskuriert werden konnte. Ebenso musste damals auch der Bruder ins Krankenhaus und auf Kinderkur.

Dass sie am Ende gesund geworden ist, dafür sei sie bis heute dankbar, betonte die Lohnerin. Vor diesem Hintergrund relativierte sie auch die weniger schönen Erlebnisse. Einmal in der Woche musste das kleine Mädchen im Kinderkurheim Haus Hamburg auf nüchternem Magen einen Schlauch schlucken, denn der Befall mit Tuberkulose wurde seinerzeit anhand des Magensaftes überwacht. Und wie langweilig waren den Kindern die häufigen Liegezeiten ohne richtige Unterhaltung.

Mit gerade einmal vier Jahren begann Ende 1950 dieser langwierige Behandlungsmarathon, aber nach heutiger Einschätzung habe sie die Aufenthalte im Krankenhaus mit den strahlend weißen Bettlaken und blitzblanken Waschbecken und Toiletten als Gegensatz zum Plumpsklo als kleines Kind wohl eher positiv erlebt, schilderte Oda Wiesner. Zudem waren die Kinder zumindest bei den Kuren im Haus Hamburg nicht weit von zu Hause entfernt, sodass der Kontakt zur Mutter erhalten blieb.

Eigene Aufzeichnungen, die vor einigen Jahren unter anderem im Rahmen einer Schreibwerkstatt entstanden waren, führten aber auch Erinnerungen an Ängste, Heimweh, düstere Träume und Traurigkeit vor Augen. Besonders authentisch machten den Vortrag zudem viele Auszüge aus den Briefen der Mutter an die Großeltern, die in der damaligen DDR lebten. Auch diese Passagen, so die Einschätzung Oda Wiesners, dokumentierten den besonderen Zeitgeist. Die Ermahnungen an die Kinder, nur immer schön brav zu sein, kamen immer wieder vor.

Ergänzt wurde Wiesners Vortrag um diverse Familienfotos, vom Vater gemalte Bilder und Briefe und Dokumente, die Wolfgang Potthast digitalisiert hatte. Dass es sich bei Oda Wiesners Erlebnissen während der Kinderkur teils um typische Erfahrungen aus der damaligen Zeit handelte, zeigte einige Wortmeldungen.

Doch auch darin schilderten die Zuhörerinnen ein differenziertes Bild. Gerade die jüngeren Pflegekräfte hätten sich oft erschrocken gezeigt über die harten Erziehungsmethoden der älteren. Auch dies sind Erlebnisse, die zum Beispiel auch in verschiedenen Berichten von Verschickungskindern öfters auftauchen.

Die Erfahrungen der Verschickungskinder

Von den 1950er bis in die 1990er Jahren wurden Millionen Kinder in Deutschland in Erholungsheime verschickt, wo sie aufgepäppelt werden sollten. Viele erlebten jedoch Misshandlungen und einen menschenunwürdigen Umgang. Zwecks Aufarbeitung dieser Missstände wurde in NRW Ende März ein Runder Tisch mit Vertretern aus Politik, Verwaltung und Verbänden gebildet. Der Aufarbeitung dienten ebenso ein zweitägiger Kongress in Bad Sassendorf im vergangenen Jahr, ein Forschungsprojekt der Uni Münster in Kooperation mit den Salzwelten oder ein digitaler Rundgang auf den Spuren eines Kurkindes durch den Ort. An diesen Vorhaben war Oda Wiesner teils ebenfalls beteiligt. Das große Interesse der Studenten an ihren Erlebnissen von der Kinderkur habe sie sehr beeindruckt.

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