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Becketts „Der Verwaiser“ in Recklinghausen

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Miriam Goldschmidt liest „Der Verwaiser“ in Recklinghausen auf deutsch. Angekündigt war französisch.
Miriam Goldschmidt liest „Der Verwaiser“ in Recklinghausen auf deutsch. Angekündigt war französisch. © Pastore

Von Katrin Pinetzki RECKLINGHAUSEN - Ein Wiedersehen mit Miriam Goldschmidt und Samuel Beckett gab es nun in Recklinghausen: Vor acht Jahren stand beziehungsweise saß die Schauspielerin zuletzt auf der Bühne des Ruhrfestspielhauses, eingegraben in einen Sandberg, und zelebrierte als „Winnie“ in „Glückliche Tage“ die Kunst der Selbsttäuschung.

Allein das Spiel ihrer Augen, so blieb es in Erinnerung, hätte den Abend getragen. Nun ist sie wieder da, erneut unter der Regie des großen Peter Brook: Miriam Goldschmidt liest „Der Verwaiser“, einen Prosa-Text von Beckett aus dem Jahr 1970 – eine Deutschlandpremiere und eine Koproduktion der Ruhrfestspiele mit dem Napoli Teatro Festival.

Dass sein Text auf der Bühne nur gelesen und nicht gespielt werden solle, hat Beckett der Theaterwelt mit auf den Weg gegeben. Trotzdem machen Brook und Goldschmidt aus dem Abend etwas mehr als eine szenische Lesung: Die Schauspielerin bewegt sich zwischen drei raumhohen Leitern, die ins Nichts führen, sie schleppt sich, hockt, kauert und versucht – mit dem Manuskript in der Hand – dem Text so viel Seele wie möglich einzuhauchen, die Schwingungen des Textes in Mimik und Gestik aufzunehmen. Unterstützt wird sie dabei von Musiker Francesco Agnello, der an seinem Schlagwerk Oberton-Musik erzeugt.

Allzu viele emotionale Schwingungen gibt der Text freilich nicht her: „Der Verwaiser“ ähnelt der nüchternen Beschreibung eines Versuchsaufbaus. Eine Geschichte, einen Plot gibt es nicht. In einem zylinderförmigen Raum existieren 200 Menschen sowie Leitern, die zu Nischen und Tunneln an der Decke führen. „Das Bedürfnis zu klettern ist allgemein vorhanden“, heißt es – die Suche nach Erlösung und Erkenntnis, nach einem „Verwaiser“. Oben verweilen darf allerdings niemand, das schreiben die Regeln der Gemeinschaft vor. So bleibt die Möglichkeit der Flucht ein Mythos: Es gibt jeweils Anhänger der Ansicht, der Ausgang befinde sich in einer versteckten Klapptür oder im Tunnel.

Die Suche ist demnach per se aussichtslos, doch wer sie aufgibt, ist „besiegt“ und blind. Auf Besiegte darf man treten.

Das Grau der Häute, die Lichtverhältnisse, die trockenen Schleimhäute, sogar die seltene Fortpflanzung dieser nackten Kreaturen wird mit sezierendem Blick beschrieben, häufig mit der eingeschobenen Einschränkung: „Falls diese Vorstellung beibehalten wird“ – ein Verweis auf die Subjektivität des forschenden Betrachters.

Miriam Goldschmidt ist mit ihrer unglaublichen Präsenz auch lesend ein Erlebnis auf der Bühne, es bereitet es ihr sichtlich Mühe, sich derart zurückzunehmen. Ein kurzer, intensiver Abend.

15. Juni (16 Uhr), 16. Juni (18 Uhr); Tel. 02361/92180

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