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Empathie auf dem Stundenplan: Baby besucht Schule, damit Kinder Umgang miteinander lernen

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Von: Sina Alonso Garcia

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Baby in Schulklasse
Bei „Roots of Empathy“ ist der Lehrer ein Baby. © Roots of Empathy

Die Kanadierin Mary Gordon hat mit „Roots of Empathy“ ein Programm entwickelt, das Kinder und Jugendliche für Mitgefühl sensibilisieren soll. Einmal pro Monat erhalten Klassen Besuch von einem Baby.

Stuttgart - Während in vielen Lehrplänen der Schwerpunkt ganz klar auf Theorie liegt, kommen pädagogische Aspekte häufig zu kurz. Zwar wird den Schülern einerseits geballtes Wissen in kurzer Zeit vermittelt, Persönlichkeitsentwicklung und der Umgang mit anderen geraten dabei aber leider oft ins Hintertreffen. Die kanadische Pädagogin Mary Gordon hat das Problem erkannt und will das Dilemma lösen. Mit „Roots of Empathy“ (ROE) hat sie ein Programm entwickelt, das die Empathie von Kindern und Jugendlichen stärken soll.

Baby als Empathie-„Lehrer“: Schüler sollen lernen, eigene Gefühle und die anderer zu erkennen

Das Konzept: Eine ausgebildete Trainerin besucht Schulklassen einmal pro Monat gemeinsam mit einer Mutter und ihrem Baby. In Interaktion mit dem Kleinen lernen die Schüler, Empathie für andere zu entwickeln. In Kanada startete das Programm bereits 1996 und gehört inzwischen zum Standardlehrplan an staatlichen Schulen. Auch in Deutschland gibt es schon erste Testläufe.

Was zunächst kurios klingt, läuft eigentlich ganz intuitiv ab: Die Kinder der Schulklasse beobachten das Baby und seine Entwicklung. Gleichzeitig versuchen sie, seine Gefühle zu benennen. Das Baby ist also quasi der „Lehrer“ - der Hebel, den die Trainerin einsetzt, um den Kindern zu helfen, ihre eigenen Gefühle und die anderer zu erkennen und zu reflektieren. Insgesamt umfasst das Programm 27 Klassenbesuche. Sowohl Grundschulen als auch weiterführende Schulen können teilnehmen.

Babys in Schulklassen: Herzerwärmende Erfahrungen mit Schülern

Das Magazin Psychologie Heute hat an einer Schulstunde von ROE in Kanada teilgenommen und beobachtet, wie Achtklässler auf das sechs Monate alte Baby Evan reagiert haben. Zunächst erklärte die Mutter, dass Baby Evan nicht gerne kuschelt. Außerdem wolle Evan mit dem Gesicht nach vorne getragen werden und nicht - wie viele andere Babys - mit dem Blick zum Körper der Mutter. „Er liebt es, wenn er nach vorne sehen kann, hinaus in die Welt.“ Auch die Schüler durften Evan, wenn sie wollten, auf den Arm nehmen. Überraschend meldete sich hier auch Darren, ein Junge mit schwieriger Vergangenheit. Ganz sachte wiegte er den kleinen Evan hin und her und gab ihn behutsam seiner Mutter zurück. Dabei fragte er seinen Lehrer: „Was glauben Sie - wenn man als Kind nie geliebt wurde, kann man trotzdem ein guter Vater sein?“

Auch in der Schweiz war Baby Juliette in einer Primarschule zu Besuch und lockte dort die Schüler aus der Reserve, wie ein Familienblog berichtet. Die Mutter Bettina, eine Schulsozialarbeiterin, war zunächst noch skeptisch: „Meine größte Angst war, dass Juliette viel weint.“ Die anfänglichen Bedenken waren aber schnell ausgeräumt: „Sie hat bei allen Klassen-Interventionen wunderbar mitgemacht und Gesichter beobachtet. Wir hatten während der Schulstunde auch viele Rituale, das gab Sicherheit und Juliette hat sich wohlgefühlt.“ Sie könne das Schulprogramm von Roots of Empathy nur weiterempfehlen: „Man setzt sich bewusst mit den kleinen Entwicklungsschritten auseinander und lernt auch viel von den Kindern, weil diese ganz andere Sachen beobachten als Erwachsene.“

Kinder öffnen sich beim Umgang mit Baby Juliette: Ihr Lächeln bricht das Eis

Wie Baby Juliettes Mutter weiter berichtet, habe Juliette einen doppelten Daumen. „In der Klasse haben wir es nicht thematisiert, wir wollten schauen, was passiert.“ Ein Junge habe den sechsten Finger plötzlich entdeckt, sodass es Thema in der Klasse wurde. „Viele Kinder sagten, man dürfe sie deswegen nicht ärgern, ein anderes Kind sagte, dass es wegen seiner Eselsohren gemobbt wurde. So konnten wir diese Tabu-Themen gleich zur Diskussion machen, was eine super Sache ist.“ Ein weiteres Highlight sei ein Mädchen gewesen, welches sich zunächst verweigert hatte, bei der Aktion mitzumachen. „Wir waren in einer sogenannten schwierigen Klasse im Einsatz mit 26 Kindern. Wir konnten das Mädchen fast nicht zum Mitmachen aktivieren. Doch ein Lächeln von Juliette hat genützt und sie hat teilgenommen. Am Ende des Programms hat sie Juliette Zauberkräfte gewünscht.“

Die langjährige Auswertung des Schulprogramms zeigt, dass es Früchte trägt: So hat es dazu geführt, dass Schüler, die daran teilgenommen haben, das Umfeld in ihrer Klasse danach als fürsorglicher empfunden haben. „Empathiefähigkeit ist uns angeboren“, ist Mary Gordon überzeugt. „Die Fähigkeit, Gefühle anderer zu erkennen, überschreitet die Grenzen zwischen Rassen, Kulturen, Nationalitäten, Klassen, Geschlechtern und Altersgruppen.“

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